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Zweimal London und zurück, bitte!

Die Tatsache, dass ein Potsdamer Paar im Hochsommer eine Reise nach London plant, wäre nicht unbedingt einen Artikel wert. Wenn beide allerdings mit der festen Absicht auf die Insel reisen, wert- volles Edelmetall zu entführen, ist das etwas anderes. So wie beim Kanutenpaar Nicole Reinhardt und Tim Wieskötter. Die beiden gehören zu den aussichtsreichsten brandenburgischen Kandidaten für die Olympischen Sommerspiele.

Tim muss umdrehen. Das Steuerseil an seinem Boot ist gerissen. „Das passiert nur alle drei Jahre mal“, schüttelt Freundin Nicole den Kopf und lacht. „Aus- gerechnet heute.“ Gemeinsame Trainingsfahrten mit ihrem Freund sind für sie eher eine Seltenheit. Der Tempounterschied ist einfach zu groß. Fürs Foto macht das Paar allerdings eine Ausnahme. Nach wenigen Minuten ist Tim mit einem neuen Boot zurück. Missgeschicke wie dieses können den 33-Jährigen derzeit kaum aus der Ruhe bringen. Er ist einfach nur froh darüber, nach einer langwierigen Verletzung wieder zur deutschen Spitze zu gehören und um die Olympiatickets mitfahren zu können. Die Spiele in London wären bereits seine vierten. Bislang kam er jedes Mal mit einer Medaille nach Hause. 2004 sogar mit Gold. Gemeinsam mit seinem Klubkollegen Ronald Rauhe dominierte er über viele Jahre im 500-Meter-Zweierkajak. Dass die erste Niederlage nach Dutzenden ungefährdeten Siegen ausgerechnet das Finale in Peking war, wurmt ihn noch heute. Nachdem der Kanuverband ausgerechnet auch noch seine Spezialstrecke aus dem Programm streichen ließ, musste er sich für 2012 neu orientieren. „In London will ich unbedingt im Vierer sitzen“, sagt der gebürtige Emsdettener. Ob es reicht, wird er erst im Juni wissen, wenn nach dem letzten Weltcup-Rennen die Nominierungen bekannt gegeben werden. „Sechs bis sieben Mann kommen infrage. Das wird eine heiße Nummer“, weiß er. Im Kampf um einen Platz im Boot hat er in den letzten Monaten Tausende von Trainingskilometern zurückgelegt – im heimischen Potsdam, in Trainingslagern im Ausland und im Bundesleistungszentrum Kienbaum (Landkreis Oder-Spree). Dabei spielte es keine Rolle, ob das Wasser auf dem Templiner See noch empfindlich kalt war oder auf dem St. Lucie River in Florida neugierige Alligatoren das Training beobachteten.

Freundin Nicole unterstützt ihn bei seinem Comeback so gut sie kann, wobei auch sie ganz auf London fokussiert ist. 2008 hatte die damals 22-Jährige im Vierer bereits Gold geholt. Diesmal liebäugelt sie mit der prestigeträchtigen 500-Meter-Einzelstrecke, auf der sie 2011 Weltmeisterin wurde. Dass beide dasselbe große Ziel verfolgen, empfindet das Paar als klaren Vorteil. „Wir sind ein echt gutes Gespann“, sagt Nicole, die nach wie vor für ihren Heimatverein Lampertheim startet, aber schon lange in Potsdam trainiert. „Wir machen uns gegenseitig Mut, gerade wenn es im Training mal nicht so läuft. Tim kann sich perfekt in meine Situation hineinversetzen und ich mich in seine. Viel besser als das ein Partner könnte, der keinen Leistungssport oder eine andere Sportart betreibt.“ Schwierig wird das Zusammen- leben der beiden nur immer dann, wenn einer von ihnen erkältet ist. „Man möchte sich um den anderen kümmern, aber man muss vor allem aufpassen, dass man sich nicht ansteckt und in Trainingsrückstand gerät“, ergänzt Tim.

Bei mehr als 20 Trainingsstunden pro Woche, den Wettkämpfen an den Wochenenden und vielen Trainingslagern bleibt wenig Zeit für Muße, um einfach nur mal ein gutes Buch zu lesen oder etwas Leckeres zu kochen. Doch ein Leben ohne Paddeln kann sich Nicole noch nicht vorstellen. Schließlich sitzt sie bereits seit ihrem siebenten Lebensjahr im Kanu. Von ihrer Heimatstadt Lampertheim, bei der sie angestellt ist, er- hält sie die perfekte Unterstützung, um ihren Sport professionell ausüben zu können. Speziell jetzt, kurz vor Olympia, ist die Athletin, die 2008 bei einer Umfrage zum schönsten Sportgirl des Sommers gewählt wurde, auch bei den Medien sehr gefragt. Im Vorfeld der Peking-Spiele hatte sie sich sogar für den Playboy fotografieren lassen. Eine Erfahrung, die sie nicht missen möchte. „Ich war mir vorher schon im Klaren darüber, worauf ich mich da einlasse. Natürlich gibt es immer Leute im Umfeld, die so etwas nicht so toll finden. Da musste ich durch. Immerhin sind die Fotos sehr schön geworden.“

Beim Gedanken an die bevorstehenden Spiele bekommen beide leuchtende Augen. „Die Vorfreude ist groß. Wir sind super aufgeregt“, gesteht Tim. „Leider sind wir Kanuten zwei Stunden von London entfernt untergebracht.“ Auch Nicole findet das schade. „Die Atmosphäre im Olympischen Dorf ist etwas ganz Besonderes, das werden wir vermissen. Ständig sieht man dort tolle Leute. In Peking stand plötzlich mal Starschwimmer Michael Phelps im Bademantel neben mir in der Mensa.“ Falls es die Zeit erlaubt, wollen sie aber unbedingt ein paar der anderen Wettkämpfe sehen. Am liebsten die der Leichtathleten. Und wenn alles gut geht, werden die beiden am 12. August selber auf der Tartanbahn stehen, denn die Schlussfeier im Olympiastadion wollen sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Über die Zeit nach London machen sich Tim und Nicole im Moment noch keine Gedanken. Für Nicole wären die Spiele in vier Jahren noch ein realistisches Ziel. Zudem entspricht der Austragungsort Rio de Janeiro allein schon von den Temperaturen her ihren Vorlieben. Tim wird sich ab Herbst ganz auf den Abschluss seines Wirtschaftsingenieur-Studiums an der Technischen Hoch- schule Wildau konzentrieren. Ob er weiter aktiv paddelt, will er erst später entscheiden. In keinem Fall wird man die beiden jedoch in naher Zukunft beim entspannten Wasserwandern auf brandenburgischen Gewässern antreffen. Langsam fahren – das hat den beiden noch nie Spaß gemacht.

Dieser Text erschien in "Sanssouci", dem Kundenmagazin der MBS (Mittelbrandenburgische Sparkasse).

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