Rezensionen

"Truth Is A Beautiful Thing" von London Grammar

Der Soundtrack für den Herbst

"Truth Is A Beautiful Thing" ist keine 1:45 Minuten alt, als Sängerin Hannah Reid bereits das erste Mal anscheinend spielend durch mehrere Oktaven spaziert ist. Das könnte wie eine vokalistische Machtdemonstration wirken. Oder wie der überhebliche Übersteiger eines Stürmers kurz nach dem Anstoß, einfach nur, um den Gegenspieler zu düpieren. Doch London Grammar ist ganz und gar nicht die Band, die derartige Posen nötig hat. Aber der Reihe nach.

Nach ihrem vor vier Jahren erschienenen, mehr als 2 Millionen mal verkauften und doppel-platiniertem Debüt „If you wait“ gerät der Band aus Nottingham das traditionell schwierige zweite Album ausgesprochen gut. In ihrem Geburtsland brachte ihnen das kurzfristig ihre erste Nummer 1 ein (in Deutschland Nummer 9). Dabei hatte die Band, zu der neben Hannah Reid noch Dan Rothman (Gitarre) und Dominic Major (Keyboard) gehören, auf einer nicht enden wollenden Welttournee nicht nur die schönen Seiten des Musikbusiness kennengelernt, sondern auch Phasen erlebt, in denen sie am Rande der völligen Erschöpfung standen. Absagen oder verkürzte Konzerte waren die Folge. Hannahs einzigartiger Stimme, die auf der neuen Platte noch stärker als auf dem Vorgänger im Mittelpunkt steht, bekamen die Reisen, der unregelmäßige Schlaf und die wechselnden klimatischen Bedingungen überhaupt nicht gut. Nach dem Tourende hatte die Band vor allem auf zwei Dinge Lust: Ausspannen und neue Songs schreiben. Das Ergebnis ist eine Platte, die in meinem persönlichen Ranking ernsthafte Ansprüche auf den Spitzenplatz des Jahres 2017 anmelden darf. »Melancholisch-sanfter Dreampop zwischen Electronica und Indie geprägt von der oktavübergreifenden, markanten Gänsehautstimme von Hannah Reid« bringt es Audio in seiner August-Ausgabe auf den Punkt.

Ein Hit im klassischen Sinne, so wie es 2013 am ehesten „Metal & Dust“ war, findet sich auf "Truth Is A Beautiful Thing" nicht. Die Songs brauchen etwas länger, um im Ohr zu bleiben, setzen sich dann aber mit großer Beharrlichkeit dort fest. Mir ging das vor allem bei "Who Am I", „Big picture“ (Coldplay-Produzent Jon Hopkins mischte mit) und dem beinahe schon groovig zu nennenden "Non Believer" so.

Achtzig Minuten (Deluxe-Ausgabe) sparsam instrumentierter Electro-Pop mit gelegentlichen TripHop-Elemente, über dem die kraftvolle und über jeden Zweifel erhabene Stimme von Hannah Reid schwebt. Die Entscheidung für die Deluxe-Edition wird u.a. mit einem Cover von The Verves Weltschmerz-Hymne „Bitter Sweet Symphony“ und dem wunderschön lässig-traurigem „May the best“ versüßt.

Einige Rezensenten verweisen auf eine Seelenverwandtschaft zwischen London Grammar und Florence and the machine oder den Hamburger „Hundreds“. Ich würde gern etwas höher ins Regal greifen: Mit Hannah Reid hat Eurythmics-Ikone Annie Lennox eine würdige Nachfolgerin bekommen. Wer melancholische Musik mag, braucht sicher keinen Herbst, um Gefallen an diesem „Soundtrack für den Kopf“ zu finden.

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