Rodeo für Anfänger (Textauszug)
Die Sonne grinste, als hätte sie den ganzen Morgen lang Gras geraucht. Ein paar Pelikane flogen Kunstflugstaffel. »Ich hab noch nie zuvor den Pazifik gesehen«, gestand Vincent ergriffen, während er sich vorsichtig vom Wasser die Zehen kitzeln ließ. Vico konnte das kaum glauben. »Die Indianer in der Sierra Madre«, erzählte er, »haben ihren Kindern die Augen verbunden, bevor sie das erste Mal das Meer zu sehen bekamen, um die Bedeutung dieses Moments zu unterstreichen.«
Alle schwiegen daraufhin für ein paar Minuten und gingen ihren Gedanken nach. »Die Wellen haben ordentlich Schaum vorm Mund«, unterbrach Cedric schließlich die Stille. Er freute sich darauf, jeden Tag mit seinem Sohn surfen zu gehen. »Surfen ist geil! Solltest du mal versuchen«, sagte er zu Douglas, der darüber nur den Kopf schütteln konnte. Mit seiner „Metallica“-Wollmütze wirkte er hier so deplatziert, wie ein Pinguin, den die Meeresströmung aus Patagonien versehentlich an den Strand gespült hatte. »Ich bin auf einer Farm aufgewachsen. Warum sollte ich Wellen zureiten, die es ein paar Sekunden später gar nicht mehr gibt.« Cedric schien eine Weile zu brauchen, bis er dieser Logik folgen konnte. »Außerdem sind da draußen Haie«, fügte Douglas hinzu. »Na und? Haie mögen gar kein Menschenfleisch«, sagte Cedric. »Es sterben weltweit wesentlich mehr Menschen durch herab fallende Kokosnüsse als durch Haiangriffe.«
»Woher soll der Hai wissen, dass ich es bin, der an ihm vorbei paddelt?«
»Du meinst… und keine fette Robbe?«
Cedric fing sich eine der üblichen Kopfnüsse ein.
»Ich meine, müsste er nicht erst in mich reinbeißen, bevor er das weiß?«
Endlich klingelte Cedrics Mobiltelefon und beendete die Diskussion. Seine Frau, berichtete er, würde jeden Moment hier sein. Binnen Sekunden löste sich die sonderbare Strandgemeinschaft auf und stapfte zurück zum Parkplatz. »Ich habe den cleversten Sohn der Welt«, strahlte Cedric unterwegs, der eben mit seinem 9jährigen gesprochen hatte. »In seiner Schule war heute der offizielle „Coca Cola Tag“. Also hat er sich am Morgen einfach sein Pepsi-T-Shirt angezogen und ist kurzerhand wieder nach Hause geschickt worden.«
Es dauerte fast zwei Stunden, bis sich der Bandbus den ganzen Weg bis hoch nach West Hollywood gequält hatte. »9081 Santa Monica Boulevard, Doug Westons Troubadour. Hier drin sind die Byrds und die Eagles entstanden«, verkündete Vico stolz, während Pablo lautstark über die schmale Einfahrt fluchte. Der Club war eine Legende. Er hatte sich seit den 60er Jahren gehalten und gehörte noch heute zu den bekanntesten Rock-Adressen der Westküste.
Bis zum Beginn des Konzerts war noch jede Menge Zeit. Während Makandal schlief, lümmelte Douglas vor einem der Fernseher und schaute sich eine Talk-Show an, in der eine übergewichtige Ex-Domina, die im Alter von 50 Jahren siamesische Zwillinge bekommen hatte, darüber sprach, dass sie ihr Piercingstudio verklagen würde, weil ihr Zungenpiercing den Zahnschmelz abrieb und die Füllungen beschädigte. Douglas amüsierte sich prächtig. Von Trash-TV bekam er nie genug. »Wenn wir erst in Japan spielen«, freute er sich, »werde ich den ganzen Tag vor der Glotze hängen. Die übertreffen alles, was wir uns vorstellen können. Auf HBO haben sie mal Ausschnitte aus "Nippons Töchter trinken um die Wette" gezeigt. Das war geil! Die haben sich scharenweise in die Klinik gesoffen.« Kurz darauf erschien Pablo und erklärte, dass er jetzt damit anfangen müsse, den Bus in Ordnung zu bringen, damit er ihn morgen früh wieder abgeben könne. Douglas rollte genervt mit den Augen, aber Pablo ließ sich auf keine Verhandlungen ein und startete den Staubsauger. »Wir könnten ja so lange Pool spielen gehen«, schlug Vincent vor. »Ich hasse Pool«, wehrte Douglas ab, wie ein störrisches Kind. »Ich bin farbenblind.«
Mit der Aussicht auf einen Burger überredete Vincent Douglas schließlich doch noch, den Bus zu verlassen. Makandal schloss sich ihnen an. Er lotste die zwei in „Mels Drive Inn“ am Sunset Boulevard, einem Restaurant wie aus einem 60er Jahre Film oder aus „American Graffiti“. Auf jedem Tisch stand eine Musikbox, die für ein paar Coins alte Rock’n roll hits spielte. Douglas warf etwas Geld ein und begann mitzusingen. »You can swing it you can groove it, you can really start to move it at the hop, where the jockey is the smoothest and the music is the coolest at the hop. All the cats and chicks can get their kicks at the hop. Let's go!« Standesgemäß bestellten sie Hamburger, Pommes, Milchshakes und Cola. Douglas hatte ein paar Meinungsverschiedenheiten mit dem Kellner, die er den anderen beiden mit seinem Misstrauen gegenüber Mexikanern erklärte (»Sie gehen hinter dir in eine Drehtür und kommen vor dir wieder raus.«). Makandal nannte Douglas deshalb einen Rassisten. Wenn es darum ging, wurde er radikal wie ein kanadischer Umweltschützer. Seine Vision war es, den Rassismus ganz einfach abzuschaffen, in dem man die Rassen solange zwangsvermischte, bis sie völlig verschwunden waren.Das war auch der Grund, aus dem er weiße Frauen bevorzugte. Douglas verzog gequält das Gesicht.
Langsam wurde es Zeit, ins „Troubadour“ zurückzukehren. Als der Ladenin Sichtweite geriet, strahlten die drei. Die Aussicht konnte sich mit der aus der hinteren Reihe eines Aerobic-Kurses messen. Hübsche Frauen waren hier eindeutig in der Überzahl. »Sieht aus, wie die Schlange vorm Damenklo«, meinte Douglas. »Cool«, erwiderte Makandal. »Ich hab die besten Partys meines Lebens auf Damentoiletten erlebt.« Denkbar war das bei ihm allemal. »Wisst ihr eigentlich, was das tolle an einem Hintern ist?«, fragte er, während sie unerkannt an der Schlange der Wartenden vorbei gingen. »Er flirtet mit dir, während dich seine Trägerin noch nicht mal bemerkt hat.«
Im „Troubadour“ waren nun auch Marten und Cedric eingetroffen. Sie standen hinter einer Glasscheibe auf der Galerie und schauten der Vorband zu. Die „Overeaters Anonymous“ sahen aus, wie eine deutsche Hobbyband, die auf Kirmessen Supertramp nachspielt. Wie Marten beschwor, waren es aber allesamt gestandene Studio-Cracks, die sich mit regelmäßigen Gigs in Form hielten. »Du kannst wetten«, meinte er. »Irgendeiner der Typen hat garantiert schon mit Brian Wilson gejammt, war mit Tom Petty auf Tour oder hat sich mit Mick Fleetwood an einer Hotelbar auf Barbados besoffen. Den Jungs kannst du nichts mehr erzählen. Die haben alles schon gesehen.«
Vincent war jedoch nicht ganz klar, wie ihr freundlicher Siebziger-Rock mit dem düsteren Gewitter von „Clandestine Shadows“ zusammen in einen Abend passen sollte. Wahrscheinlich wurde das Publikum nach dem Gig komplett ausgetauscht. »Der Riff ist von den Stones geklaut«, bemerkte Marten plötzlich, als würde er „Foul“ schreien. »Na so was«, erwiderte Vincent. »Da spielen die Stones ihr Leben lang nur ein Riff und dann wird das auch noch geklaut«. Marten lachte. »Du bist in Ordnung, Mann! Ich werde dich vermissen.« Vincent grinste verlegen.
»Ich wusste übrigens gleich, dass du unser Mann bist«, gestand Marten. »Und zwar in dem Moment, als du in Austin auf Vinny Appice angespielt hast. Cedric kannte wahrscheinlich nicht mal den Namen. Er merkt sich nur die Bassisten und Gitarristen.« Dieses Phänomen war Vincent bekannt. »Als ich damals anfing«, fuhr Marten fort, »haben wir bei einem Festival gespielt, auf dem DIO Headliner waren. Kurz vor meinem Gig stand Vinny plötzlich neben mir an der Pissrinne. Ich hätte ihm gerne gesagt, was für ein Monsterdrummer er für mich ist, aber in der Situation wäre das ziemlich blöd gekommen. Immerhin hat er mir Glück gewünscht.« Vincent gefiel, dass sich Marten an solche Episoden erinnerte, obwohl er selbst so etwas wie ein Rockstar war. »Wusstest du«, fragte Marten, »dass Vinny auf Lennons „What ever gets you thru the night“ das Händeklatschen gemacht hat?« Vincent schüttelte mit dem Kopf. »Damals war er gerade mal 16. Er ist sogar in ein paar Lennon-Videos zu sehen.«
Vico erinnerte die beiden daran, dass es Zeit wurde, sich auf den Auftritt vorzubereiten. Vincent ging wie üblich noch mal auf die Toilette. In die Unterkante der Tür, die sich etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden befand, hatte jemand »Beware of Limbo Dancers« geritzt. Der Rest war mit den üblichen Sprüchen verziert. Sie ließen nicht darauf schließen, dass einige ihrer Schreiber Helden der Musikgeschichte waren. Vielleicht hätte das Klo ein „Who is Who“ des Rocks schreiben sollen. Eines mit heruntergelassen Hosen.
Die Jungs waren jetzt startklar. Sie wirkten noch cooler als sonst. Aber er kannte sie jetzt lange genug, um ihre Anspannung zu spüren. Das Troubadour gehörte bei weitem nicht zu den größten Clubs, in denen sie während der Tour spielten. Gerade mal 300 Zuschauer drängelten sich vor der Bühne oder saßen auf den langen Holzbänken im Rang. Aber das hier war Los Angeles und man wusste vorher nie, wer im Publikum war. Am Bühnenrand reihten sich inzwischen ein paar Fotografen auf, die Martens Auftritt festhalten wollten. Die „L.A. Weekly“ hatte ihm eine ganze Seite gewidmet. Nichts liebten sie hier mehr, als die Comebacks verloren geglaubter Söhne. »Sieht so aus, als wären wir gerade der heißeste Scheiß«, sagte Marten ruhig und atmete tief ein, als wolle er den Geruch aus Schweiß und Bier inhalieren. Dann stieg er die Stufen zur Bühne herunter, so als würde er sich gleich von den Klippen Acapulcos in die Tiefe stürzen.
Rodeo für Anfänger erschien 2007 im PRO Business Verlag.