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Nerdish by Nature

Unser Messetester Lars B. Sucher widmet sich heute einer Spezies, die man auf Messeständen weit häufiger findet, als es dem Geschäft zuträglich ist: den Fachleuten, Spezialisten oder gerne auch Nerds

Sie finden ihn („Er“ kann natürlich auch eine „Sie“ sein, allerdings tritt die männliche Variante wesentlich häufiger in Erscheinung) auf jedem Messestand. Vielleicht ist er nicht gleich auf den ersten Blick zu erkennen auf den zweiten jedoch ganz sicher. Achten Sie einfach darauf, wer etwas verloren herumsteht, sich in seinem alles andere als maßgeschneiderten Anzug sichtlich unwohl fühlt, die Schultern hängen lässt, Blickkontakt vermeidet, etwas zu oft auf seine Fingernägel schaut und ständig die drei Kugelschreiber sortiert, die in seiner Sakkotasche stecken. Sie haben eine Person gefunden, auf die diese Beschreibung passt? Dürfen wir vorstellen? Das ist der Spezialist, Experte, Nerd oder – wenn es denn sein muss – auch Fachidiot. Und es gibt kaum einen Platz, an dem er schlechter aufgehoben sein könnte als hier auf der Messe.

Jeder hatte einen wie ihn in seiner Schulklasse. Damals waren das häufig die Jungs, die beim Fußball ins Tor mussten und beim Witze erzählen immer die Pointen versemmelten. Dafür halfen sie beim Erledigen der versäumten Hausaufgaben und schrieben bei Test besonders groß, um es dem Banknachbarn leichter zu machen. Im Gegenzug nahm man sie auf die richtigen Partys mit und ertrug tapfer ihre merkwürdigen Wortspiele („Schittebön!“, „Bis Danone!“, „Klingonisch – is aber so“). Sie waren halt „Nerdisch by Nature“ wie es der Comedian Maxi Gstettenbauer sagen würde. Doch selbst wenn die Spezies früher belächelt wurde – heute stellt man sich mit Kollegen dieses Schlags am besten gut. Wenigstens, weil sie jedes IT-Problem im Vorbeigehen lösen aber sicher auch, weil sie ihre Ideen unter Umständen eines Tages teuer verkaufen und zu Millionären machen könnten.

Auch unser neuer Bekannter vom Messestand stellt da keine Ausnahme dar. Er sammelt Patente wie andere Star-Wars-Figuren. Während der Arbeit trägt er eigentlich am liebsten Kapuzen-Hoodies und T-Shirts mit Sprüchen, die nur versteht, wer über ausgeprägte Programmierkenntnisse verfügt. Sein Verbrauch an Pizza und Kaffee ist Legion. Zum Nachtisch löffelt er Götterspeise – oder wie er es nennt Transparentpudding. Dennoch halten ihnen die Single-Frauen im Unternehmen inzwischen für unterhaltsames und sogar heiratsfähiges Material. Und mit jeder neuen Staffel „Big Bang Theory“ bekommt sein Spitzname („Sheldon“) einen heroischeren Klang. Auch wenn es, wie bei seinem prominenten Namenspatron, in seinen Kurvendiskussionen nie um weibliche geht und seine Augenringe am Montagmorgen nicht vom ausgelassenen Feiern, sondern von exzessiven World of Warcraft- oder Battlefront-Sessions herrühren.

Doch hier, auf der Messe, schaut der Spezialist in die Runde, als hätte er die „Zurück auf Los“-Karte gezogen. Er hat Standdienst. Was könnte er in dieser Zeit nicht alles für wichtige Dinge tun: die Speicherfähigkeit von Batterien verbessern, intelligente IT-Landschaften weiterentwickeln, per angeborenem Röntgenblick den Kaffeeautomaten reparieren, der kalten Kernfusion zum Durchbruch verhelfen, ein Mittel gegen Krebs finden – oder die IKEA-Möbel seiner Nachbarin zusammenbauen. Selbstverständlich ohne einen Blick in die Bauanleitung zu werfen. Aber nein, er wird dringend für das Gespräch mit Kunden benötigt, die seinen hochkomplexen Gedankengängen nicht länger folgen können, als es dauert, beim Catering-Personal ein Glas Wasser zu bestellen. Außer verlorener Zeit kostet das den arbeitgebenden Aussteller nichts. Allenfalls einen potentiellen Lead, der sich völlig unverstanden fühlt, den Stand verlässt und hilflos in die Arme der Mitbewerber läuft.

Völlig anders stellt sich die Angelegenheit dar, wenn Mr. Nerd auf einen Gleichgesinnten trifft. Unser Experte wird den nämlich – vor lauter Glück, sich endlich verstanden zu fühlen – als einen der wenigen Lichtblicke empfinden, die ihm während der Messetage begegnen. Froh darüber, dass da endlich einer ist, der begreift, was er erzählt, berichtet er bereitwillig von aktuellen Forschungsprojekten, Prototypen und Visionen. Ihnen, als Stand­ver­antwortlichem, bleibt an dieser Stelle nichts anders übrig, als zu beten, dass sein Gegenüber das Gespräch nicht genau mit diesem Ziel gesucht hat und gnadenlos Ideen absaugt. Doch selbst dann, wenn dessen Absichten frei von jeglichem Argwohn sind, könnte er enttäuscht darüber sein, dass die Technologien, die gerade vor seinen Augen zum Leben erweckt wurden, von der Serienreife noch weit entfernt sind und sie Produkte auf diesem Niveau auch in ein paar Jahren noch nicht liefern. In jedem Fall werden diese von gegenseitigem Verständnis geprägtem Gespräche deutlich länger dauern, als es ihren Messeprozessen gut tut. Und sie bringen viel weniger, als die eines erfahrenen und hochmotivierten Screeners, der von Ihrem Unternehmen bis vor wenigen Monaten nicht mal den Namen kannte, aber aufgrund seiner Erfahrung und Professionalität hervorragend performt.

Noch schmerzhafter wird die Angelegenheit, wenn die Konkurrenz ihre Scouts losschickt. Nicht nur Bayern München und RB Leipzig haben geschultes Personal auf der Payroll, die entwicklungsfähige Mitarbeiter eher im eigenen als im Team des Wettbewerbers wünschen. Im „War of Talents“ vergessen Unternehmen mitunter die gute Kinderstube und liefern ihre Erkenntnisse gern von der Messe direkt in die HR-Abteilung. Namhafte Player aus der Autoindustrie sind deshalb sogar schon davon abgekommen, ihre Entwickler auf den Autosalons dieser Welt in Schaufenster zu stellen. So leicht muss man es den Recruitern nun wirklich nicht machen.

Auf großen Widerstand werden Sie bei Ihren Experten beim Überbringen der Nachricht, dass für sie das alljährliche Klassentreffen der Branche diesmal ausfällt, nicht stoßen. Und sollte dennoch der eine oder andere traurig darüber sein, erklären Sie ihm einfach, wie unabkömmlich er am heimischen Standort ist und dass man ihn jederzeit per Skype zuschalten könne, wenn seine Kompetenz vor Ort gebraucht wird. Für den Fall, dass Sie in Ihrer Branche partout nicht auf die Anwesenheit der technologischen Kompetenzträger verzichten können, empfehlen wir Ihnen, Ihre Spezialisten nicht einfach frei auf dem Stand herumlaufen zu lassen, sondern sie in eine von außen nicht einsehbare Box zu setzen. Beschriften Sie diese am besten als Fachorakel, dem man Fragen über Innovationen, Neuentwicklungen und Trends stellen kann. Sie werden sehen, Ihr Messestand ist bald in aller Munde. Ihre Spezialisten wird der Aufenthalt in einem fensterlosen Raum nicht weiter stören, solange das Catering reibungslos funktioniert und die Internetverbindung schnell und stabil ist. Das müssen Sie jetzt nur noch irgendwie dem Betriebsrat verklickern. Sagen Sie einfach, dass ansonsten nur Winston, Siri oder Google Assistant für diesen Job in Frage kämen.

Dieser Text erschien im Rahmen des Kunden-Newsletters von "Fricke inszeniert."

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