Rezensionen

Julie Zeh: Unterleuten

Luchterhand Literaturverlag, 640 Seiten

Ohne Frage, mit „Unterleuten“ ist Julie Zeh das gelungen, was man einen „großen Wurf“ nennt: Ein epischer Roman, der an der Welt im Kleinen die heutige bundesdeutsche Wirklichkeit im Großen beschreibt und die oft beschworene Solidargemeinschaft als verlogene Ego-Gesellschaft entlarvt. Die Handlung spielt im Jahr 2010. Hier haben die Zersetzungsprozesse noch nichts mit Flüchtlingskrise, Islam oder AfD zu tun. Sondern mit der einfachen und bereits von Titus Maccius treffend benannten Tatsache, dass „der Mensch dem Mensch ein Wolf ist“. Gier, Selbstsucht, Gewinnstreben, Neid und Streitereien sind keinesfalls Phänomene früherer Entwicklungsphasen, die ab einer bestimmten Stufe der Zivilisation überwunden werden. Sie sind so präsent wie eh und je. Und zwar quer durch alle Schichten – vom sogenannten Gutmenschen bis zum Bösewicht. Vielleicht ist „Unterleuten“ sogar einer der Romane, die den nach uns kommenden Generationen eine Idee davon vermitteln werden, warum es damals bei uns letztlich eigentlich schiefgegangen ist. Ein so realistisch-pessimistisches Gesellschaftsbild hatte ich von Frau Zeh angesichts ihrer mitunter merkwürdig weltfremden Auftritte in diversen Talkshows jedenfalls nicht erwartet.

Die handelnden Personen ihres Romans decken ein breites Spektrum der bundesrepublikanischen Wirklichkeit ab. Das reicht von angestammten Dorfbewohnern bis zu stadtflüchtenden, voller Sehnsucht nach der heilen Welt steckenden Akademikern, von DDR-Altkadern bis zu neoliberalen Westimporten, von Alphamännchen bis Befehlsempfängern, von Machern bis Angsthasen, von Utopisten bis Kleingeistern, von „wandelnden Selfies“ bis zu bodenständigen Menschen, die einfach nur über die Runden kommen möchten. Juli Zeh lässt sich viel Zeit, jeden Einzelnen detailliert einzuführen. Es dauert eine Weile, bis sie alle ihre Figuren auf dem Spielbrett vereint hat und sie wie in einer Versuchsanordnung im Labor aufeinander los lassen kann. Das Voranschreiten der Handlung steht lange hinter der ausführlichen Erläuterung der unterschiedlichen Geschichten, Sichtweisen und Motivationen zurück. In zahlreichen Anekdoten setzt sich das Bild der Dorfgemeinde dabei wie ein Puzzle zusammen.

Geschickt vermeidet Zeh, dass dem Leser einzelne Akteure besonders sympathisch oder unsympathisch werden. Die ständig wechselnde Perspektive lässt das Handeln der verschiedenen Personen aus der jeweiligen Sicht verständlich erscheinen. Auch wenn das deren Nachbarn möglicherweise ganz anders sehen. Jeder ist davon überzeugt, den richtigen Blick auf die Welt zu haben. Alle kreisen um sich selbst und um die eigenen Bedürfnisse. Keiner ist bereit, den anderen wirklich verstehen zu wollen. Es fehlt genau das, was auch öffentliche Debatten immer schwieriger werden lässt: Der Respekt für den anders Denkenden und die Bereitschaft, dessen Argumente wenigstens zur Kenntnis zu nehmen.

In einem Dorf wie Unterleuten bleibt nichts verborgen. Man weiß Bescheid und regelt die Dinge unter sich. Das Geflecht aus alten Rechnungen, Abhängig- und Gefälligkeiten, Zwängen und Denkschablonen ist für Außenstehende kaum zu durchschauen und über viele Jahre gewachsen. Der Moment, an dem die Lage im Dorf schließlich zu eskalieren beginnt, ist der geplante Bau eines Windparks, durch den die Karten neu verteilt werden. Aus Feinden werden plötzlich Koalitionspartner, manch ökologisch denkender Grüner entdeckt seine konservative Seite und die Besitzer der in Frage kommenden Landstücke versuchen sich gegenseitig wie Pokerspieler auszunehmen.

Im letzten Drittel nimmt dann auch die lange vor sich hin plätschernde Handlung Fahrt auf. Wenn es an diesem Buch überhaupt einen Kritikpunkt gibt, dann den, dass der kollektive Kollaps der Dorfgemeinschaft ein wenig zu übertrieben wirkt. Was da in Unterleuten mit einem Mal wie ein Vulkan ausbricht, hat sich aus meiner Sicht nicht ausreichend angekündigt, um glaubhaft zu sein. Doch da sich die meisten Figuren nur wenig entwickeln, war es aus Sicht der Autorin womöglich notwendig, am Ende wenigstens deren Umfeld entscheidend zu verändern. Ich fühlte mich ein bisschen an das brachiale Finale mancher Serienstaffel erinnert, durch das sich die Macher in eine Fortsetzung retten wollen. Damit ist bei „Unterleuten“ nicht zu rechnen. Dennoch bin ich schon sehr gespannt, was Frau Zeh als nächstes einfällt.

Einen netten Gag landet sie mit dem Verweis auf das Ratgeberbuch „Dein Erfolg“ von Manfred Gortz, das einer ihrer Protagonistinnen als Motivationsfibel dient. Dieses Buch existiert tatsächlich und verkauft sich ganz ordentlich. Geschrieben hat es in Wahrheit allerdings kein Herr Gortz, sondern Julie Zeh höchstpersönlich. Gewiss amüsiert sie sich prächtig darüber, wie ernst ihre dort platzierten halbgaren Weisheiten von vielen Lesern, die ihr offenbar auf dem Leim gegangen sind, genommen werden.

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