Textprobe

Hurra, wir leben noch!

Das Leben eines Messetesters war in den letzten eineinhalb Jahren nicht gerade leicht. Was sollte man schon testen? Virtuelle Messen? Da bot allenfalls die Gamescon Unterhaltungswert. Natürlich gab es während der Pandemie genug andere Dinge, die sich testen ließen. Das Gehör, Abgase, Spiele, Masken und natürlich immer wieder sich selbst. Ernstzunehmende berufliche Alternativen ließen sich daraus kaum ableiten. Allenfalls als Weintester oder Dorfäl-Tester. Freie Stellen suchte ich leider vergebens.

Doch mit dem Spätsommer kam die Rettung. Die ersten Messehallen öffneten wieder ihre Tore – mit angezogener Handbremse zwar dafür mit echten Menschen. Das schaue ich mir an, dachte ich mir und buchte mein Messe-Comeback. Die Hygienebedingungen, die mir per E-Mail zugesandt wurden, erinnerten mich an die Bedienungsanleitung meines Fahrradcomputers. Alle Sprachen dieser Welt waren vorhanden, aber ich verstand nicht mal den Text in meiner eigenen. Von 2G und 3G war die Rede. Waren wir nicht schon mal bei 5G? Mit jedem Tag, den meine Abreise näher rückte, wurde ich unruhiger. War ich überhaupt schon bereit für die Messewelt da draußen, inklusive Vollkontakt? Jeder Biologe weiß schließlich: Nach monatelanger Käfighaltung ist das Auswildern nicht so einfach. Am letzten Abend liefen die Ausreden wie auf einer Parade an meinem inneren Auge vorbei. Warum sollte ich meine Komfortzone verlassen? Es war definitiv zu früh, zu nass, zu kalt …

Schon die Fahrt zum Bahnhof kam mir wie ein Abenteuer vor. Frisch gewaschen und geföhnt wartete der ICE bereits am Gleis. Demütig maskiert und mit beschlagenen Brillengläsern suchte ich nach meinem Sitzplatz. Würde die Zeit nach Corona tatsächlich so sein, wie mancher euphorisch voraussagte? Ein Aufbruch, ein Neustart, eine Kehrtwende? Eine entschleunigte Welt, ein achtsamerer Umgang mit den Ressourcen? Würde ich mich in einer solchen neuen Normalität überhaupt zurechtfinden?

Der überfüllte Zug beförderte mich umgehend wieder in die Realität. Die Reisenden standen dicht gedrängt, als hätte es so etwas wie Abstandsregeln nie gegeben. Ich kämpfte mich zu meinem reservierten Platz vor. Auf diese Art von Vollkontakt hatte ich wenig Lust. War doch der Alltag gerade so schön körperlos geworden. Außerhalb von Liebesbeziehungen fanden Berührungen praktisch nicht mehr statt. Man traf niemanden mehr persönlich aber konnte sich die körperlosen Seelen in beliebigen Mengen auf den Bildschirm laden. Die Tücken des Alltags spürte man nur noch in Momenten, in denen man mit dem Knie gegen das Tischbein stieß. Sollte es so etwas wie ein Leben nach dem Tod geben, dann könnte sich das so ähnlich anfühlen.

Der Geräuschpegel meiner Mitreisenden erinnerte mich daran, dass ich keinesfalls im Himmel war. Auch alles andere schien bei der Bahn so wie früher zu sein. Der Klapptisch vor mir war eher ein Klappertisch, ein Teil der Toiletten war defekt und aus den Lautsprechern drangen fadenscheinige Verspätungsbegründungen. Ein Vater auf der anderen Gangseite ging mit seiner Tochter Hausaufgaben durch: »Es ist Oktober und du hast 26 Mitschüler. 6 sind geimpft, 2 aktuell positiv, 14 in Quarantäne und 3 haben ihre Schulaufgaben vergessen. In welchem Bundesland befindest du dich?« Irgendwann schlief ich ein und träumte davon, wie Claus Weselsky im Hubschrauber über unserem Zug kreiste, um den Lokführer zum Streiken zu bewegen.

Kurz vor dem Zielbahnhof wurde ich wach. Eine gewisse Vorfreude verband sich mit einer Prise Unsicherheit. Die Straßen der Stadt waren voller als erwartet. Offenbar folgten viele Beschäftigte dem Marschbefehl „Return to office“. Die Motivation der verschiedenen Truppenteile dürfte dabei sehr unterschiedlich sein. Für viele Eltern, die parallel das Home-Schooling ihrer Kinder überwachten, hatte sich das Home-Office angefühlt wie der erste Kreis der Hölle in Dantes Inferno. Andere haben sich längst an die süße Droge gewöhnt: Mehr Schlaf, legerer Dresscode, leckerer Kaffee aus der eigenen Espressomaschine, kein Stau oder volle Nahverkehrsmittel, keine Parkplatzsorgen …

Ohne Frage, für manche Tätigkeiten oder Situationen ist Home Office die ideale Lösung. Das Tagesgeschäft funktioniert in vielen Unternehmen auch remote erstaunlich gut. Doch mit fortlaufender sozialer Distanzierung dämmert einigen inzwischen, warum Vorreiter wie IBM oder Yahoo ihre großflächig angelegten Home-Office-Projekte bereits vor Jahren ad acta gelegt haben. Vieles, was über die Jahre mühsam und mit Hilfe unzähliger Teambuilding-Maßnahmen aufgebaut worden ist, verschwand so schnell wie das Detailwissen eines Abiturienten nach bestandener Prüfung. Die Menschen lebten in Fernbeziehungen zu ihren Arbeitgebern und Kollegen. Der kommunikationsfördernde Effekt der unternehmenseigenen Dorfbrunnen – auch Kaffeeküche genannt – Kopierräumen oder Kantinen wurde schmerzlich vermisst. Die Integration von Berufseinsteigern oder neuen Kollegen blieb auf der Strecke. Ebenso wie spontan gemeinsam ersponnende Ideen und eine unverfälschte Fehler- und Feedbackkultur. Auch lässt sich aus der Entfernung schwer feststellen, wie sich die einzelnen Kollegen gerade fühlen.

An der Messe angekommen, klopfte mein Herz in freudiger Erwartung. Auf den ersten Blick schien alles wie früher. Die Fahnen vor dem Eingang standen stramm, als wären sie geimpft. Hinter den Masken erkenne ich die ersten bekannten Gesichter. Doch wie verhalten? Früher machte man sich schon mal Gedanken darüber, ob eine kurze Umarmung angebracht ist oder ob nach einem Küsschen links, noch eines rechts folgt. Heute fürchtet man schon, der falschen Person die Hand zu reichen. Die Verrenkungen, die gegenwärtig bei Begrüßungen zu beobachten sind, wirken oft unfreiwillig komisch. Wie also richtig? Per Ellenbogen, im Namaste-Style, wie die Vulkanier, Füßeln (Vorsicht Sturzgefahr!), ein schüchtern in den Raum gehauchtes „Grüß Gott“ …? Ich entscheide mich für den Handknöchelgruß. Dass der Begriff Ghettofaust dafür ausgedient haben dürfte, wurde mir neulich klar, als ich beobachtete, wie sich zwei Omis im Supermarkt auf dieselbe Weise guten Tag wünschten. Da geht es dem Wort wie vielen anderen schönen Begriffen, die in der Dauerschleife des sozialen Fastens aus dem Sprachgebrauch zu verschwinden drohten. So zum Beispiel Zechprellen, Wirtshausschlägerei, Büroromanze, Flurfunk, Stadionwurst oder Türsteher, um nur einige zu nennen.

Ein Wort, dass im Zuge der Pandemie dagegen richtig Karriere gemacht hat, ist hybrid. Es kommt überall da zum Einsatz, wo sich die Dinge miteinander vermischen. Das ist an ziemlich vielen Stellen der Fall. Stand es bisher vor allem für die Bezeichnung von Antrieben und Nutzpflanzensorten, gibt es heute hybride Parteitage, hybrides Fleisch, hybride Briefe, hybride Messen … Doch nicht alle so betitelten Lösungen halten, was sie versprechen. Das weiß man nicht erst, seitdem Leasingunternehmen davon berichten, dass viele hybride Fahrzeuge nach Ablauf der Vertragszeit mit original verpackten Ladekabel zum Händler zurückkommen. Schon gar nicht muss, was hybrid ist, zukunftstauglich sein. Das ist selbst beim ältesten Hybrid, dem Maultier, der Fall, das sich bekanntlich nicht fortpflanzen kann.

Dennoch spricht nichts dagegen, genau zu überprüfen, wie wir der Rückkehr zur Normalität ein bisschen von den Erfahrungen aus der Lockdown-Zeit beimischen können. Warum für eine Produktpräsentation um die Welt jetten, wenn ein Besuch im virtuellen Showroom genauso zielführend ist? Warum wertvolle Zeit mit Reisen vergeuden, wenn eine Maschinenabnahme ebenso online erfolgen kann? Warum sich bei einer Schulung an den eigenen Raumkapazitäten orientieren, wenn die Teilnehmerzahl im Internet unbegrenzt wäre?

Auf den besonderen Reiz eines persönlichen Treffens müssen wir deswegen nicht verzichten. Aber vielleicht reservieren wir diese in Zukunft für die Gesprächspartner, bei denen es sich wirklich lohnt. Genau das werde ich jetzt tun und den netten Herrn Mühlbach an seinem Stand besuchen. Worüber wir reden werden? Zunächst mal übers Wetter.

Ihr Lars B. Sucher

Der Text erschien im Kundenmagazin der Agentur Fricke "Raum und Zeit".

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