Die zehn besten CDs des Jahres 2022
Platz 1:
Jamie T.
The theory of whatever
Obwohl Jamie T., der sich bereits 2007 mit seinem Debüt „Panic Prevention“ ein Denkmal gesetzt hat, regelmäßig die Top 5 der britischen Album-Charts erreicht, läuft er außerhalb der Indie-Szene weitgehend unterhalb des Radars. Zwischen den Platten taucht der Südlondoner gewöhnlich komplett ab. Auch in den Sozialen Medien taucht er so gut wie nie auf. Dennoch ging „The theory of whatever” im Königreich direkt auf 1. Und das hat sicher nur zum Teil damit zu tun, dass eine sehnsüchtig wartende Fanbase sowieso alles kauft, was der Meister auf den Markt bringt.
„Als würden Affen Shakespeare schreiben“, beschreibt Jamie Treays seinen eigenen Arbeitsprozess. Er hält sich selbst nicht für einen guten Songwriter. Da möchte ich vehement widersprechen. Traumwandlerisch sicher hält sein hymnisch-schnoddriger Mix aus HipHop, Indie-Rock und Singer-Songwriter-Elementen die Balance. Den Aufgalopp bestreitet „90s Cars“ mit Dream-Pop-Elementen und New-Order-Bassline. Dann wird ein Gang höher geschaltet. Schon das Intro zum zweiten Song „The Old Style Raiders“ (für mich das stärkste Stück der Platte), einer potenziellen Indie-Rock-Hymne mit typisch britischem Gitarrensound, versetzte mich in einen warmen Sommerabend. Ein Bier in der Hand, eine hell erleuchtete Open-Air-Bühne vor der Nase und nostalgisch lächelnd an die Nullerjahre zurückdenkend. Das folgende „British Hell“ kommt so herrlich hingerotzt daher, als hätten die Arctic Monkeys durch die Studiotür geschaut. Mit „Keying Lamborghinis“ folgt eine gekonnte Symbiose aus Hip Hop und Dark Pop, die auch Mike Skinner zur Ehre gereicht hätte. Bluesig wird es dagegen im melancholischen „St. George Wharf“ und beim euphorischen „A Million & One New Ways To Die“ steigt der Moshpit. Mit Titel 12, dem emo-hymnenhaften „Old Republican“, hat „The theory of whatever“ noch ein spätes Highlight. Wenngleich der zweite Teil nicht mehr ganz die Qualität des ersten bieten kann, hält das Album auch bei mehrmaligem Durchhören Überraschungen bereit. Genau genommen wird es sogar mit der Zeit immer besser.
Platz 2:
Editors
EBM
Das Akronym EBM steht nicht zufällig im Plattentitel. Wer möchte, kann das siebente Album der Band aus Birmingham als Hommage an das in den 1980er Jahren entstandene „Genre Electronic Body“ Music verstehen. Damals vermischten Bands wie Nitzer Ebb, Front 242 und DAF Industrial- und Minimal-Electro-Elemente zu kraftvollen tanzbaren Sounds. Dem Underground entkommen ist diese Musik eigentlich nie. Immerhin gilt sie heute als wichtiger Wegbereiter u.a. für Techno. Es gibt eine zweite Möglichkeit, die titelgebende Abkürzung zu dechiffrieren: EBM kann auch für Editors + Blanck + Mass stehen. Der Kopf hinter Blanck Mass, Benjamin John Power, hat bereits 2019 mit der Band zusammengearbeitet und gehört nun seit „EBM“ offiziell dazu. Seine Electro-Beats peitschen den Sound gnadenlos nach vorn, dunkle Sequencer sorgen für eine düstere Romantik und Tom Smiths unverwechselbare Stimme mit Hang zu Pathos und Falsett sorgt dafür, dass das Ganze noch als Editors-Musik erkennbar bleibt. Beinahe zwangsläufig kommen Erinnerungen an die Intensität der Sisters of Mercys, verbunden mit der Assoziation von Trockennebel, Strobo-Gewitter und dem Geruch von Leder auf.
Dass die Tanzbarkeit auf Anschlag gedreht wird, ist vermutlich kein Zufall. Schließlich zielte auch die bis heute erfolgreichste Editors-Single „Papillon“ von ihrem 2009er Album in diese Richtung. In puncto Live-Qualitäten ist die Band ohnehin über alle Zweifel erhaben. Was spricht also dagegen, voll auf das Feeling von Stadionkonzerten zu setzen? Selbst wenn Innovationen dabei auf der Strecke bleiben.
Wie eine Spitzenmannschaft, die in den ersten Minuten eine hohe Führung anstrebt, um das Ergebnis später routiniert über die Zeit bringen zu können, hauen die Editors mit „Heart Attack“, „Picturesque“ und „Karma Climb“ gleich am Anfang die drei stärksten Stücke raus. Die Beats treiben und pumpen, die Bässe donnern, als gäbe es kein Morgen mehr, die bandtypischen Gitarren und mitunter auch harte Riffs vertragen sich ausgezeichnet mit schummerigen Dark-Wave-Elementen. Gelegentlich schimmern auch Einflüsse von Depeche Mode und New Order durch. Und was melodische Loops und hymnische Refrains angeht – das konnten die Editors eh schon immer. Acht von neun Stücken überschreiten die fünf-Minuten-Marke. Ich gebe zu, ich brauchte ein paar Durchläufe, um mich mit den neuerfundenen Editors anzufreunden. Spaß gemacht hat mir die Platte aber von Anfang an. Die Identität der Band hat nicht gelitten.
Platz 3:
Shout out louds
HOUSE
“I’m waiting for you to take me away on white horses …” – der erste Song der Platte “As far away as possible” setzt den Grundton. Er erinnert an die Zeit des Gefangenseins im Lockdown, an die weniger schönen Momenten des Zuhause-Sitzens und an die Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und Sonne. Entstanden sind die neuen Stücke tatsächlich während der Corona-Zeit in einem Probenkeller in Stockholm, dort, wo, wie die Band schreibt, „es warm, safe und sound ist und man mit Freunden die Nacht durchbechern kann“. Vielleicht erklärt das, warum das jüngste Album der Schweden ein wenig von der Kraft vermissen lässt, die Shout Out Louds in den ersten Jahren ihrer zwanzigjährigen Bandkarriere entwickelte. Das ist nicht weiter schlimm. „House“ ist eher ein musikgewordener Trostspender mit – wie es ein Kollege treffend formulierte – Dream-Pop-Seufzern, der zwischen fröhlichem Indierock und düsterem Post-Punk changiert.
Die Songs pendeln zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Manchmal klingen The Cure durch. Manchmal auch New Order und die Pixies. Der Sound ist warm und vertraut, doch gelegentlich wünscht man sich, dass die Band auch mal ein Wagnis eingeht. Wer kurz reinhören möchte: Neben dem Opener empfehle ich das schwärmerische „High as a kite“ (mit großen Background-Chören), das als Pflaster auf jede Wunde passt, „Sky and I“ mit poppiger Strophe und schönem Refrain sowie das garage-rockige „June“. Aber warum eigentlich nur kurz reinhören? Diese Platte eignet sich zur Dauerbeschallung für viele Lebenslagen – nicht nur zum aus dem Fenster schauen, wenn es regnet.
Platz 4:
Noah Cyrus
The hardest part
Die jüngere Schwester von Miley Cyrus zu sein, ist gewiss nicht immer ein Vergnügen. Aufgewachsen im Schatten des weltweiten Superstars war Noah allerdings schon seit ihrer Kindheit selbst Teil des Showbiz. In „Hannah Montana“ trat sie seit ihrem sechsten Lebensjahr regelmäßig in Gastrollen auf.
Die Wahrscheinlichkeit, es in einer solchen Konstellation mit Depressionen, Angstzuständen und Medikamentensucht zu tun zu bekommen, ist größer als die für den Beginn einer eigenständigen Singer-Songwriter-Karriere. Bei Noah gibt’s beides. In ihren Adern fließt nun mal Nashville-Blut und da kann man offenbar gar nicht anders als die Verletzungen des eigenen Seelenlebens in Musik zu übersetzen.
Auch wenn sie 2021 schon mal für den Grammy nominiert war (Best New Artists), kommt dieses Debütalbum überraschend. Noah Cyrus mischt Country-Folk und rockige Elemente mit zeitgenössischem Pop. Eindeutiger Chef im Ring sind die Akustikgitarren. Das Ergebnis ist durchaus Mainstream aber so liebevoll komponiert und von einer brutalen herzzerreißenden Ehrlichkeit, dass es die Indiepolizei wohlwollend durchwinken kann. Hinter den Reglern sorgte immerhin Arctic Monkeys-Produzent Mike Crossey für die richtige Dosierung. Eine gewisse stimmliche Ähnlichkeit zu ihrer Schwester kann sie zwar nicht leugnen. Glücklicherweise ist ihre Musik aber ganz anders.
Höhepunkte der Platte sind für mich „Every beginning ends“ (im Duett mit Benjamin Gibbard von Death Cab For Cutie), das lässig-verträumte „Ready to go“ und „Mr. Perocet“, das sich (zumindest musikalisch) auch auf einer Lana del Rey-Platte gut gemacht hätte. Den Abschluss des Albums bildet der Country-Gospel „Loretta's song“, eine Hommage an Cyrus' verstorbene Großmutter. „The hardest part“ verdient das Prädikat „klanglich zeitlos“. Umso mehr bleibt zu hoffen, das weitere Meisterwerke folgen.
Auf den weiteren Plätzen:
5. Curses – "Incarnadine"
6. Tempers – "New Meaning"
7. Placebo – "Never Let Me Go"
8. Fontaines D.C. – "Skinty Fia"
9. Kae Tempest – "The Line Is A Curve"
10. Jenny Hval – "Classic Objects"