Die zehn besten Alben des Jahres 2024
Platz 1: Bleachers – „Bleachers“
Angesichts seines Erfolgs überrascht es, wie wenig bekannt Jack Antonoff hierzulande ist. Elf Grammys hat der mittlerweile Vierzigjährige bereits gewonnen. Zehn davon als Produzent. Seine Kundenliste liest sich wie ein Who is who der internationalen Popwelt mit Namen wie Lana del Rey, Lorde, St. Vincent, The 1975, Florence The Machine, Pink, Kendrick Lamar und allen voran Taylor Swift. Nebenbei hat der Multiinstrumentalist in den letzten zehn Jahren mit seiner Band Bleachers immerhin vier Alben sowie ein Live-Album abgeliefert. Doch während die von ihm produzierten Künstler häufig die Spitze der Bilboard-Charts erreichen, stiegen seine Bleachers-Werke bislang nie höher als bis Position 11. Was zumindest mich verwundert, denn bei mir ging die 2024er Platte unangefochten auf die 1.
Zugegeben, die Bleachers sind gnadenlos retro. Es gibt etliche Keyboard- und Saxophonmomente, die direkt in die Achtziger verlinken. Unüberhörbar steckt eine große Portion Springsteen in den Stücken (auf dem 2020er Album der Bleachers war der Boss sogar als Gast dabei). Und wer möchte, findet auf der Platte eine Menge von dem, was Antonoff seinen oben genannten Kunden verkauft. Denn wenn die Bleachers nicht gerade wie Springsteen klingen, dann schon mal wie Taylor Swift („Me Before You“), Bon Iver („Alma Mater“), The 1975 („Call Me After Midnight“) oder The National ("We are going to know each other forever"). Musikkritiker mag das stören. Mich nicht. Denn ganz ehrlich: Was ist so schlimm daran? Songs, die Sonne in jeden grauen Tag bringen, den Hörer umarmen und eine Atmosphäre entfachen wie auf einem Abschlussball haben immer recht.
Für mich funktioniert „Bleachers“ als perfekter musikalischer Stimmungsaufheller – zuverlässig und ohne lästige Nebenwirkungen. Wer also mit euphorischen Bläser-Fanfaren, trötetenden Saxophons und stampfenden Beats kein Problem hat und sich nicht daran stört, wenn ein Album ein wenig zusammengewürfelt erscheint, wird seinen Spaß haben. Antonoff ist zu wünschen, dass er denselben behält, selbst wenn die Verkaufszahlen nicht an die seiner Studiokundschaft heranreicht. Die Hoffnung, dass er ohne Rücksicht auf Verluste, was Ansehen und Stil angeht, munter weitermacht, nährt er im Song „Self Respect“, meinem persönlichen Favoriten auf der Platte: »I’m so tired of having self-respect, let’s do something we regret.«
Platz 2: The Vaccines – “Pick-up full of pink carnations”
The Vaccines? Da war doch mal was. So richtig auf dem Schirm hatte ich die Londoner Indie-Band nicht mehr. Aber dann fiel mir ihr sechstes Album in die Hände und da war es wieder da, das „Was kostet die Welt?“-Gefühl, mit dem die Band um Justin Young jeden ihrer selten länger als drei Minuten dauernden Songs zu einer Party macht. Wer es schafft, bei Songs wie "Lover to walk away" oder "Primitive man" stillzusitzen, braucht nicht mehr weiterzulesen. Alle anderen werden an dem gut gelauntem Power-Brit-Pop sicher großen Spaß haben.
Ohne Frage, sämtliche Songs von „Pick-up full of pink carnations” hätten auch schon auf dem Debüt der Pub-Rocker sein können. Neuerungen haben die Vaccines nicht im Gepäck. Die nicht viel länger als 30 Minuten umfassende Platte ist genauso wie bereits ihr genialer Erstling geprägt von klirrend shoegazeartigen Gitarren, nervösen Drums und der coolen trotzigen Stimme von Justin Young. Garage-Rock trifft hier auf Pop-Punk und New Wave. In UK ging es für „die Indies, die den Indies das Tanzen lehren“ damit hoch bis auf Platz 3. Wer bei den Feierbiestern reinhören möchte, dem empfehle ich "Heartbreak kid", „Discount De Kooning (Last One Standing)“ sowie meinen persönlichen Favoriten "Lunar eclipse".
Platz 3: Maria Hackman – „Big Sigh“
Der große Seufzer, der Maria Hackmans Platte den Titel gab, dürfte einer der Erleichterung gewesen sein, als sie ihr fünftes Album zum ersten Mal durchhörte. Für die zehn Songs, die irgendwo im Spannungsfeld zwischen Art Pop und Art Rock changieren, hat die 31-Jährige abgesehen von Streichern und Bläsern jedes Instrument selbst eingespielt. Angesichts der neuen Vorliebe für opulente Arrangements war das gewiss eine ebenso reizvolle wie anspruchsvolle Herausforderung. Neben den gewohnt reduzierten akustischen Kompositionen, die kaum mehr benötigen als Gitarre und Stimme, finden sich auf „Big Sigh“ auch von Rock und Grunge durchdrungene Momente sowie bombastische Elektronikpassagen. Doch ganz gleich in welche Richtung sich Maria Hackman bewegt, sie scheint überall trittsicher zu sein. Dieses Gefühl vermitteln auch ihre Texte, die voller trockenen Humors stecken und von neu gewonnenem Mut erzählen. Als Produzenten saßen mit Sam Petts Davies (Radiohead, Red Hot Chili Peppers) und Charlie Andrew (alt-J, Wolf Alice, London Grammar) zwei Schwergewichte hinter den Reglern.
Der Opener „The Ground“ kommt bedächtig und zugleich opulent wie eine Filmmusik daher, als hinge der Himmel voller Geigen. Danach folgt das aus meiner Sicht beste Stück der Platte, "No caffeine". Während scheppernde Beats unaufhaltsam vorantreiben, bildet eine Armada von Streichern das verspielte Gegenstück. In dem Song arbeitet Hackman eine nicht ganz ernst gemeinte To-do-Liste für den Umgang mit zerstörerischen Beziehungen ab. Es folgen das ruhige und dennoch kraftvolle „Big Sigh“ und das wunderschöne mit Kate-Bush-Anleihe garnierte „Blood“. Wer an diesem Punkt der Platte noch immer nicht überzeugt ist, sollte zu „Hanging“ skippen, das zwar ruhig beginnt, sich am Schluss aber in ein wahres Crescendo hineinsteigert. Im letzten Viertel geht „Big Sigh“ leider ein wenig die Luft aus. Dennoch eine
Platte zum Durchhören und für mich eine der besten des Jahres 2025.
Platz 4: Chilly Gonzalez – „Gonzo“
Es war Anfang der Nullerjahre als Chilly Gonzales als subversiver Rapper ins Rampenlicht trat, irgendwo zwischen Eminem, The Streets und Cypress Hill. Später wurde er zum seriösen Pianisten. Seine Platte „Solo Piano“ von 2004 gilt heute als so etwas wie das Erweckungserlebnis der sogenannten Neoklassik. Zwanzig Alben hat der Wahlkölner bislang herausgebracht. Eines davon mit dem Pulp-Frontmann Jarvis Cocker, ein anderes mit dem Techno-Urgestein Richie Hawtin. Außerdem schrieb er für Leslie Feist, war an Daft-Punk-Platten beteiligt und arbeitete mit Drake.
Auf "Gonzo" (schon seit Ewigkeiten so etwas wie sein Spitzname) verbindet er beide Seiten seines Musikerdaseins. Sein Sound changiert zwischen Club, Elektronik und Kammermusik. Es gibt massive Bässe, jede Menge Groove aber auch mal ein Streichquartett und immer wieder Klavierpassagen – rhythmisch, genau, jazzig.
Inhaltlich setzt sich der Kanadier dessen Markenzeichen der Bademantel ist auf „Gonzo“ mit seiner Künstlerpersona auseinander. In “Surfing the Crowd” zum Beispiel geht es um die Rauschzustände, die einem Musiker der Zuspruch des Publikums geben kann. In »Neoclassical Massacre« kritisiert er die Entwicklung der Neoklassik, die aus seiner Sicht mittlerweile zur vorhersehbaren, per Algorithmen an den Streaming-Gewohnheiten der Mainstream-Hörer ausgerichteten Entspannungsmusik verkommen ist. Wie ein Gegenentwurf funktioniert das von schweren Streicher- und kunstvollen Klaviersounds getragene Instrumental "Fidelio", in dem Gonzales zeigt, dass er durchaus noch fähig ist, die Tiefen der Musik auszuloten. »F*ck Wagner« dagegen ist eine Abrechnung mit dem antisemitischen Komponisten und Dirigenten Richard Wagner. Antisemitismus ist für dem jüdischstämmigen Gonzales ohnehin ein ständig präsentes Thema. Gemeinsam mit Dirk von Lowtzow von Tocotronic, der Antilopen Gang und Igor Levit trat Chilly Gonzalez in der Hamburger Elbphilharmonie im September 2024 bei einem Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus auf. Ein starkes Zeichen angesichts des teilweisen miesen Schweigens der hiesigen Kulturszene auf die Ereignisse des 7. Oktober 2023. Dazu passt eines von Gonzos Credos: „Wir müssen immer Kunst ohne Kompromisse machen. Ohne zu fragen, wie sich etwas verkauft.“
- The Decemberists – “As it ever was, so it will be again”
- Nick Cave _ “Wild God”
- The KVB – “Tremors”
- J. Bernard – “Contigo”
- Coma – “Fuzzy Fantasy”
- Robert Stadlober – “Wenn wir einmal nicht grausam sind …“