Textprobe

Die Messe der ausgestorbenen Marken

Die Sache kam mir von Anfang an etwas merkwürdig vor. „Das musst du dir anschauen“, hatte ein ehemaliger Kollege gemailt. „So eine Messe hast du noch nie gesehen.“ Die Broschüre hing im Anhang. Das Layout erinnerte mich an die Party-Flyer der Gothic-Szene meiner Jugendzeit. „EXTINTO 23 – Leitmesse der ausgestorbenen Marken“ stand in martialischer Vampire Wars-Typographie auf dem Titel. Ein Spaziergang über einen Markenfriedhof? Echt jetzt?

Der Flyertext machte mich dann doch neugierig. Er versprach „ein Event der Wiederentdeckung und Wertschätzung von Marken, die in der Vergangenheit erfolgreich waren aber heute nicht mehr existieren.“ Und ein paar Zeilen weiter unten: „Die Messe hilft dem Besucher zu verstehen, warum Marken verschwinden und was die Gründe dafür sind.“ Dazu ein Logo, das entfernt an die Silhouette eines Dinosauriers erinnerte und der denkwürdige Claim „Nichts ist für die Ewigkeit“. Wer immer hinter dieser Veranstaltung steckte: ein Faible fürs Morbide hatte er.

Ich scannte den QR-Code und buchte mir ein Zeitfenster. Per Klick bestätigte ich, verstanden zu haben, dass die Messe nur als Einzelführung in Begleitung eines EXTINGUIDE besucht werden könne. Das sei notwendig, denn auf der Messe würde ich kein Standpersonal vorfinden. Es sei schon schwer genug, Mitarbeiter für lebendige Marken zu finden. Für ausgestorbene wäre es aussichtslos.

Als der Tag meines Messebesuchs herangerückt war, fand ich mich am vereinbarten Treffpunkt ein. Ein älterer im klassischen schwarzen Frack gekleideter Herr erwartete mich. Sein Outfit changierte zwischen einem Bestatter und einem Impresario einer schwarzen Messe. Den Knauf seines kunstvoll gedrechselten Gehstocks bildete ein silberner Totenkopf. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.

Bevor er die Türen öffnete, hielt mir mein Begleiter einen kurzen Vortrag. Die Marken, so sagte er, seien aus den unterschiedlichsten Gründen hierher gelangt. Die einen waren am eigenen Wachstum erstickt, bei anderen hatten die Inhaber zu früh Kasse gemacht oder sich zu lange in alten Erfolgen gesonnt. Wieder andere waren zu sorglos mit den eigenen Ideen umgegangen oder ihre Firewalls hatten „Tage der offenen Tür“ veranstaltet. Was allerdings für die meisten galt: Sie hatten die Zeichen der Zeit nicht erkannt und es versäumt, sich an kulturelle und technologische Veränderungen anzupassen.

»Wie bei der Evolution?«, warf ich ein.

»Genau. Survival of the fittest. Wussten Sie, dass die Hälfte der Fortune-500-Unternehmen, die es vor 20 Jahren gab, heute verschwunden sind?«, fragte er, während wir die Messehalle betraten. »Niemand kann genau vorhersagen, wie lang Geschäftsmodelle funktionieren. Was gestern noch gut war, ist morgen vielleicht schon nichts mehr wert. So wie bei Kodak.«

Wir hielten vor einer Tafel, die dafür warb, Fotos direkt vom Mobiltelefon an einen Drucker zu schicken. »Das ist der CeBIT-Stand von 2003. Damals dämmerte ihnen noch nicht, dass sich die Zeiten bald ändern.«

»Dabei waren sie mal der dickste Fisch im Teich.«

»So ist es. Das Tragische daran: Kodak hatte 1975 die Digitalkamera erfunden. Aber sie ließen sie in der Schublade verschwinden. Schließlich wollten sie ihr Monopol auf Filmrollen nicht riskieren. Noch um die Jahrtausendwende waren sie Weltmarktführer. Danach ging es steil bergab. Sie hatten einfach nicht damit gerechnet, dass es irgendwann nicht mehr darum gehen würde, Fotos auszudrucken und in Alben oder Kisten aufzubewahren. Sondern darum, sie schnell an Freunde und Familie verschicken zu können. Kodak hatte nur deswegen kein neues Geschäftsmodell, weil sie das alte nicht gefährden wollten.«

         Ich schwieg benommen. Wie war es eigentlich um mein eigenes Geschäftsmodell bestellt? Wie lange würde die Welt noch Messetester brauchen?

         »Kommen Sie«, sagte der Alte. »Wenn wir uns nicht bewegen, geht das Hallenlicht aus. Wir haben noch eine Menge vor.«

Während wir uns auf den Weg in die nächste Halle machten, entdeckte ich die verwaisten Stände von Mannesmann, Telefunken und Grundig. Doch der Alte legte einen schnellen Schritt vor. Er hatte für mich andere Highlights vorgesehen. Als wir ein Werbeplakat eines Herstellers von Kutscherpeitschen passierten, runzelte ich die Stirn.

»Das ist aus dem Jahr 1886«, sagte der Frackträger. »Klingelts da bei Ihnen?«

»Ich schüttelte den Kopf.«

»Im selben Jahr meldete Carl Benz sein Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb zum Patent an. Der Bedarf an Peitschen sollte danach rapide sinken. Womit wir bei unserem zweiten Stopp wären: Borgward.«

»Wie die Schule bei Harry Potter?«

»Nein. Das ist Hogwart. Ich meine die Automarke aus Bremen. Sie haben den Isabella hergestellt. Mein Vater hatte einen. 1961 gingen sie pleite, obwohl der Isabella ein Verkaufsschlager war. Eigenartigerweise konnten später alle Gläubiger ausbezahlt werden. Der Abwickler kam direkt von BMW. Wir denken uns den Rest …«

         Ich nickte abwesend, denn im Zentrum des nächsten Standes hatte ich ein historisches Motorrad entdeckt. »Eine Zündapp«, rief ich begeistert. »Solo K 800, Baujahr 1935«, las ich vom Infoschild ab.

         »Da war die Zündapp-Welt noch in Ordnung. Anfang der 80er hatten sie dann aber ein dickes Imageproblem. Die Maschinen galten als altmodisch. Dagegen schienen die Bikes aus Asien direkt aus der Zukunft zu kommen. 1984 war Schluss.«

         »Zündaus gewissermaßen.« Der Witz verpuffte.

         »Was uns gleich zur nächsten Legende bringt. Dem Maybach. Den hier hat einst Max Schmeling gefahren. Auch Caruso besaß einen. 2002 versuchte sich Mercedes an einem Comeback.«

»Ich erinnere mich.«

»Nach zehn Jahren war der Zauber schon wieder vorbei. Sie haben nur wenige Tausend Autos verkauft. Bei Preisen zwischen 300.000 und einer halben Millionen war das keine so große Überraschung. Mir hat das alte Modell besser gefallen.«

Lange wollte sich mein Guide auch hier nicht aufhalten. Er stürmte bereits in die nächste Halle. »Willkommen beim Einzelhandel! Erinnern Sie sich noch an Praktiker?«

»20 Prozent auf alles außer Tiernahrung. Klar, die kennt doch jeder. Was haben die hier zu suchen?«

»Seit 2013 insolvent.«

»Oh, das hatte ich ganz vergessen.«

»Hätte vielleicht funktioniert mit Hier gibt’s alles und auf Tiernahrung 20 Prozent. Aber so war der Laden einfach zu billig, um zu überleben. Handel ist ein schwieriges Pflaster. Im nächsten Gang finden Sie eine Menge alter Bekannter. Horten, Hertie, Bolle, Kaisers, Reichelt, Wertheim … Oder auch dieses Schmuckstück hier.« Er deutete auf ein blau-oranges Logo in Ticketform.

»Blockbuster! Die Videokette.« Auch die hatte ich längst vergessen.

»Ein weiteres Beispiel dafür, wie man auf den Holzweg geraten kann. 2000 hatte der Konzern Besuch von Vertretern eines völlig unbekannten Unternehmens namens Netflix. Sie boten Blockbuster eine Beteiligung an. Für läppische 50 Millionen Dollar. Was soll ich sagen. Hätten sie nicht nein gesagt, wären sie wohl heute nicht hier.«

»Internet kills the Video-Shop« kommentierte ich. Diesmal musste der Mann in Schwarz wenigstens schmunzeln.

         »Internet ist das Stichwort für unseren nächsten Kandidaten. American Online!«

         »Bin ich schon drin? AOL gibt’s auch nicht mehr?«

         »In Deutschland gingen sie 2010 vom Markt. Dabei haben sie einmal die halbe Bevölkerung online gebracht.«

         »Ich erinnere mich an die Gratis-CDs zum Einloggen.«

         »Ihr Problem war: Sie selbst hatten das Internet nicht verstanden und wollten die User um jeden Preis auf ihrer Plattform halten. Kein Wunder, dort könnten sie ja entdecken, dass es anderswo das, was sie anboten, kostenlos gab.« Der Alte winkte ab. »Mit der IT-Branche könnte ich die ganze Führung bestreiten. Denken Sie nur an den Krieg zwischen Commodore und Atari in den Achtzigern. Sie dachten, sie können auf allen Hochzeiten tanzen.«

»Apple und Nintendo hatten sie dabei nicht auf dem Schirm«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

         »Leider reicht die Zeit nicht aus, um Ihnen alles zu zeigen. Ich hätte sie gern noch in die Halle der Luftfahrt gebracht. PanAm hat einen sehr schönen Stand. Dort steht guter 40 Jahre alter Whiskey. Fokker und Air Berlin sind ebenfalls vertreten. Natürlich auch LTU. Was Managementfehler angeht, sind die ein echter Knaller. Die wurden nur noch von der Dresdener Bank übertroffen. Oder von Hertha BSC. Stattdessen möchte ich Sie am Ende noch auf unserer Rote Halle aufmerksam machen.«

         »Ist das so etwas wie die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Marken äääh Arten?«

         »Exakt. Hier finden Sie Unternehmen, die sich pro forma schon mal nach Standfläche erkundigt haben. Die Leute von Karstadt zum Beispiel waren öfter hier. Auch die von Yahoo. Einst Internetpionier und erfolgreichste Suchmaschine. Heute weiß kein Mensch mehr, was sie eigentlich tun. Oder Nokia. 14 Jahre lang beste Mobilfunkmarke. Heute halten sie sich mit Netzwerk-Infrastruktur über Wasser. Wie ein früherer Weltstar, der nun auf Möbelhaus-Eröffnungen auftritt. Gehen wir weiter?«

         Wir betraten eine leere Halle, in der ein paar Arbeiter Vorbereitungen trafen.

         »Das wird die Halle für Tageszeitungen und Zeitschriften. Wir rechnen in den nächsten Jahren mit einem enormen Zulauf. Platz ist genug da. Es wird immer wieder etwas frei. Das liegt an Unternehmen, die wir hier scherzhaft Hörnchenbeutler nennen.«

         An meinem fragenden Blick erkannte er, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

         »Die Hörnchenbeutler sind Beuteltiere, die als ausgestorben galten. 1961 hat man sie neu entdeckt. Ähnlich wie den Galapagos-Seebär, der 1932 plötzlich wieder auftauchte. Oder Nordmende-Fernseher. Die standen 2017 auf einmal wieder im Regal. Genau wie die YES-Riegel.«

»Kleine Torte statt vieler Worte!«

»2003 eingestellt. Aber von vielen schmerzhaft vermisst. 2011 wurde die Marke wiederbelebt.«

»Darauf einen Dujardin!«

»Gibt’s den überhaupt noch?«

»Ich habe keine Ahnung.«

 

Der Text wurde im Rahmen einer Kolumnenreihe für die Agentur Fricke erarbeitet.

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