Die Goldene Himbeere der Bundesliga
Ende November des letzten Jahres kam nahezu das gesamte Fußballteam des brasilianischen Erstligisten AF Chapecoense auf dem Weg zum Finale um den Südamerika-Cup bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Der Gegner, Atlético Nacional aus Medellín, schlug sofort nach der Tragödie vor, den Titel an Chapecoense zu verleihen. Für einen Moment gab mir das den Glauben an die Fairness im Fußball wieder. Leider hielt dieser Moment nicht lange an. Und spätestens zum Beginn der Bundesliga-Rückrunde, lege ich den Glauben besser wieder ad acta.
Früher hielt ich Fairness für eine Art Naturgesetz des Sports. Etwas Unumstößliches so wie Schwerkraft oder Thermodynamik. Einen Zustand, der nie zur Diskussion steht und auf den sich alles, früher oder später wieder einpegelt. Doch die Koordinaten sind ordentlich ins Wanken geraten. Gleiche Chancen und Bedingungen, Respekt gegenüber dem Gegner, die Fähigkeit, sich in kritischen Situationen von der eigenen Rolle zu distanzieren und das Fair play über das „Gewinnen wollen“ zu stellen … all das ist aus der Mode gekommen.
Es reicht ein Blick auf den deutschen Fußball. Oder präziser gesagt: Auf den Wirkungskreis des DFB. Wie groß der Mangel an bemerkenswerten Fair play-Aktionen dort inzwischen ist, zeigt die jährliche Preisverleihung des Preises „Fair ist mehr“, den es bereits seit 20 Jahren gibt. Die Idee, die hinter diesem Projekt steckt, in allen Ehren, doch schaut man sich mal genauer an, wofür die Trophäe in den letzten Jahren zu haben war, kommt man unweigerlich ins Grübeln.
So erhielt Frankfurts Trainer Niko Kovac in der vergangenen Saison den Preis allein dafür, dass er beim Relegationssieg seiner Eintracht im Mai nach dem Abpfiff nicht gleich gejubelt hat, sondern zunächst mal den unterlegenen Nürnbergern Trost spendete. Ohne Frage – das ist eine faire Geste. Aber wenn das die fairste der ganzen Spielzeit war… Schaut man ein Jahr zurück wird es nicht besser. Reinhold Yabo vom KSC bekam den Preis, weil er im Relegationsspiel gegen den HSV ein ausgestrecktes Gegnerbein im Strafraum nicht als Einladung zum Elfmeter nutzte, sondern stur versuchte, den Angriff fortzuführen. Für 2012 ging die Medaille an den ehemaligen St. Paulianer Marius Ebbers. Er hatte auf Nachfrage des Schiedsrichters zugegeben, dass er sich den Ball an die Hand geköpft hatte, bevor dieser beim Heimspiel gegen Union Berlin ins Tor gegangen war. Nichts gegen Ebbers. Aber ist das wirklich preisverdächtig? Übersetzen wir das mal in unsere Welt: Der Polizist fragt mich, ob ich etwas getrunken habe. Ich gestehe, dass es mehr als zwei Bier waren und schon werde ich auf der nächsten Jahresfeier der Polizeiwache Potsdam-Babelsberg auf die Bühne geholt und erhalte das „Goldene Blasröhrchen“? Mein Lieblingspreis ist allerdings der für Mike Büskens. Der DFB zeichnete ihn doch tatsächlich dafür aus, dass er sich vor jedem Spiel die Zeit nimmt, alle Spieler und Vereinsverantwortlichen des Gegners persönlich mit Handschlag zu begrüßen. Für den DFB ist das offenbar außergewöhnlich genug.
Fairerweise muss ich erwähnen, dass die Preisverleihung mitunter auch sehr gute Signale setzt. So zum Beispiel der an die Equipe Tricolore, die nach den Terroranschlägen von Paris die Nacht gemeinsam mit der deutschen Nationalmannschaft im Stadion ausharrte. Oder der an den Jugendlichen des FC Hassloch, der eine aussichtsreiche Situation unterbrach, weil seinem Gegenspieler die Brille heruntergefallen war.
Ich wäre dafür, jährlich auch einen Unfairness-Preis zu verleihen. So eine Art „Goldene Himbeere“ der Bundesliga. In der letzten Saison hätte zum Beispiel Augsburgs Torwart Marwin Hitz gute Chancen gehabt. Im Spiel gegen Köln trat er kurzerhand den Elfmeterpunkt kaputt und sorgte auf diese Weise dafür, dass Anthony Modeste seinen Strafstoß versemmelte. Getoppt wurde das nur noch von Trainerdarsteller Michael Frontzeck (7 Entlassungen in 12 Jahren), der das Handtor seines Schützlings Leon Andreasen – eines der dreistesten der Bundesligageschichte – gutheißte und es einzig und allein als Aufgabe des Referee ansah, solche Aktionen zu bewerten. Ich hörte förmlich, wie sich überall in Deutschland ehrenamtliche Übungsleiter ein Frustbier öffneten und die Hoffnung, ihren Schützlingen Fair Play beizubringen, am Horizont davonreiten sahen. Tatsächlich belegt eine Studie des Sportsoziologen Gunter Pilz, dass Kinder und Jugendliche, je länger sie Fußball spielen, desto mehr der Meinung sind, dass Regelverstöße bis zu einem gewissen Grad tolerierbar seien.
Was die aktuelle Spielzeit angeht, läge vermutlich Timo Werner auf einem Spitzenplatz. Seine Schwalbe aus dem Match gegen Schalke wird ihn vermutlich noch Jahre begleiten. Der damit verbundene Shitstorm sollte ausreichen, um ihm die Fallsucht abzugewöhnen. Stellt man sich allerdings mal vor, dass Werner dem Schiedsrichter, der sofort auf den Punkt zeigte, korrigiert hätte, wäre die Angelegenheit möglicherweise ins andere Extrem gekippt und man wäre an dem gebürtigen Schwaben bei der Verleihung der DFB-Fairnessmedaille für 2016/17 kaum vorbei gekommen. Dem RB-Image hätte das gewiss nicht geschadet.
Schöne Beispiele für Fair Play lassen sich eher in den Randbereichen des Sports finden. Etwa beim Finale der Deutschen Meisterschaft im Tauziehen der Damen (Ja, so etwas gibt es). Als ein Teammitglied des Tauzieh-Club Kaiserberg aus Göppingen-Lenglingen angesichts der an diesem Junitag herrschenden heißen Temperaturen einen Schwächeanfall erlitt, entschied das gegnerische Team, der Tauziehclub Allgäu-Power aus Bad Grönenbach, kurzerhand, den Wettkampf ebenfalls mit einer Sportlerin weniger durchzuführen. Kaiserberg gewann daraufhin den Titel.