Babylon Leitmesse
Unser Messetester und Coach Lars B. Sucher beschäftigt sich diesmal damit, welche Auswirkungen der stetig wachsende Anteil ausländischer Messebesucher auf das Verhalten der Aussteller hat. Insbesondere auf das der Platzhirsche.
Ich sitze im Shuttlebus zum Messegelände. Zwei Herren, einer aus Süddeutschland der andere aus der Hauptstadt – so lässt zumindest ihr Dialekt vermuten –, haben links und rechts neben mir Platz genommen. Gemeinsam schauen wir auf den Infoscreen an der Decke des Busses, der uns Geshuttelte mit aktuellen Neuigkeiten versorgt. Noch nie wurden auf der Messe so viele internationale Besucher erwartet, berichtet das Fahrgast-TV. Ihr Anteil, so vermuten die Veranstalter, wird erstmals über 40 Prozent liegen. Während der Herr zu meiner Linken, ein schlanker Mittdreißiger im schicken Zwirn – nennen wir ihn Steven –, zufrieden schmunzelt, schließlich will sich sein Unternehmen auf der Messe wieder die Exportquote polieren, scheint der stattliche 2-Zentner-Bursche zu meiner Rechten Schnappatmung zu bekommen. »Wat soll dat denn jetze?« Auf unsere verduzte Reaktion schickt er schnell hinterher, dass er natürlich ganz und gar nichts gegen Ausländer hätte, seiner Firma aber ausschließlich für den deutschen Markt produziert, da es für internationale Geschäfte gar keine Zulassung hat. Doch das macht nichts. Der Stand seines Unternehmens sei immer ein großer Anziehungspunkt. Jeder, der in der Branche etwas auf sich hält, schaut dort mal vorbei. Dann steckt er uns seine Visitenkarte entgegen („Ick bin Mario“) und stürmt aus dem Bus, der inzwischen das Messegelände erreicht hat.
Bei meinem Rundgang am nächsten Tag entdecke ich Mario wieder. Er hat nicht zu viel versprochen. Die Besucher stehen auf seinem Stand dicht an dicht und sind in nette Plaudereien verwickelt. Man kennt sich seit Jahren. Die Messe dient als eine Art Klassentreffen auf dem man sich gegenseitig auf den neuesten Stand bringt, was aktuelle Autos, Beförderungen oder Ehepartner betrifft. Die Laune scheint prächtig zu sein. Mein Blick geht auf die andere Seite des Ganges. Was für ein Zufall! Da steht tatsächlich Steven aus dem Shuttle-Bus und parliert in akzentfreiem Spanisch mit einer Besucherin, die ihrem Namensschild zufolge aus Argentinien stammt. Auch die anderen Kollegen aus seinem Team scheinen in Gespräche vertieft. Im Vergleich zum Nachbarn wirkt der Stand beinahe leer. Aber auf welchem werden gerade die besseren Geschäfte gemacht?
Ich beschließe, mir dieses Duell im Mittel(stands)gewicht genauer anzusehen. In der roten Ecke der Berliner Platzhirsch der seinen Stand seit 20 Jahren an genau demselben Platz in Halle 4 aufbaut und jeden Bestandskunden oder Branchenkollegen wie ein lange vermisstes Familienmitglied begrüßt. In der blauen, das junge schwäbische Unternehmen mit einer wie aus dem Ei gepellten Beratercrew und externen Screenern, die offenbar spielend aus dem Englischen ins Farsi oder Mandarin wechseln können und sich anhand von Filterfragen ein Bild von Herkunft, Interesse und Kompetenz des jeweiligen Besuchers verschaffen. Wer wird in diesem Vergleich am Ende die Nase vorn haben? Ein Kampf der Gegensätze wie Schalke gegen Dortmund, Vettel gegen Hamilton oder Villarriba gegen Villabajo. Ring frei!
Auch am zweiten Tag hat sich das Bild noch nicht wesentlich geändert. Während Stevens Team wie eine gut geölte Vertriebsmaschine den einen ausländischen Entscheider nach dem nächsten aus dem Besucherstrom filtert, läuft bei Mario die Party („Allet in Butta bei dir?“). Dabei stört es auch nicht, wenn sich mal ein internationaler Kunde unter die lustige Meute mischt. Auf die Idee, Interesse an den Produkten und Leistungen des Unternehmens zu entwickeln, werden die schon nicht kommen. Schließlich sind alle Informationen am Stand auf Deutsch geschrieben. Immerhin hat Mario klugerweise am Empfang eine Dame platziert, die ausländische Messegäste auf neun verschiedenen Sprachen wegschicken kann (»Da staunste, wat?«).
Tag drei bietet plötzlich ein völlig anderes Bild. Während in „Villarriba“ weiterhin alles nach Plan zu laufen scheint, steht Mario mit zerknitterter Miene vor dem Stand und versucht verzweifelt, in der babylonischen Menge potenzielle deutsche Neukunden zu entdecken. »Meen Boss war jestern hier«, berichtet er mir traurig. Der sei mit der Anzahl der Leads, die Neugeschäft versprechen, ganz und gar nicht zufrieden. Ein Messestand sei ja wohl keine Szenebar, in dem es dem Wirt egal sein kann, ob seine Cocktails von Stammgästen oder von Erstbesuchern geschlürft werden. Und das mit dem breiter Aufstellen hatte er, mit einem Verweis auf Marios beeindruckenden Bauchumfang, auch etwas anders gemeint. Damit aus der Leit- nicht am Ende eine Leidmesse werde, müsse das Team nun aktiver werden und Spontanbesucher direkt ansprechen. Mario winkt ab »Dit legt sich wida. Der olle Blubberkopp soll ma keene Fisimatenten machen. Wenn wir nich so schindaan würden, wäre es hier zappendusta, dit is amtlich.« Wie soll er das auch anstellen? Die Messegäste ansprechen und im Falle dessen, dass sie ihre Geschäfte nicht irgendwo zwischen Sylt, Oberstdorf, Görlitz und Selfkant betreiben, wieder fortschicken? Sein Englisch hatte im Urlaub bislang noch immer gereicht, um ein paar Inselbewohner vom Belegen der Liegestühle abzuhalten. Und wenn ihm nach Italienisch war, ging er meist zu Luigi um die Ecke. Doch hier fühlt er sich gerade so deplatziert wie ein Fleischermeister auf einem Vegetarierkongress.
Tapfer kämpft er sich durch den Fettnäpfchen-Parcour. Die Hälfte der Besucher scheint tatsächlich zum ersten Mal auf der Messe zu sein. Von Marios legendären Standpartys haben sie noch nie etwas gehört. Während er sich so gut es geht ins Zeug legt, denkt er wehmütig an die Zeiten zurück, in denen es vor der Messe extra ins Trainingslager ging. Offiziell hieß das Schulung aber eigentlich ging es nur darum, sich für täglich 8 Buletten und ein Dutzend Mollen in Form zu bringen.
Ein afrikanisch ausschauender Geschäftsmann steuert zielgerichtet auf ihn zu. Nervös kramt Mario nach einer Floskel, die dem Farbigen klar machen würde, dass er mit einem Gespräch nur seine wertvolle Zeit vergeude. Doch bevor er etwas sagen kann, tönt sein Gegenüber im feinsten Preußisch: »Na da sind se ja! Ick hab sie schon übaall jesucht.« Mario schaut ihn mit großen Augen an. »Ick komm aus Spandau«, erklärt sein Gast, für den die Verwunderung nichts Neues ist und erzählt von seinem Neubauprojekt, für das er auf jeden Fall Hilfe gebrauchen kann. Marios Augen beginnen zu glänzen. »Nüscht lieba als ditte!« Mit stolz geschwellter Brust begleitet er seinen Besucher ins Innere des Standes. »Hamse Lust auf ne Curry?«.
Dieser Text erschien im Rahmen des Kunden-Newsletters von "Fricke inszeniert."