Als Dongo fliegen lernte
Lars B. Sucher testet Messestände. In seiner Kolumne berichtet er über all das, was ihm in den Messehallen der Welt dabei so auffällt. Es gibt Tage, da wünsche ich mir, ich könnte Restaurants testen oder Hotels. Entspannt am gedeckten Tisch sitzen und ein halbwegs gepflegtes 4-Gänge-Menü verspeisen oder den Zimmerservice auf Trab halten – das verspricht in der Regel mehr Vergnügen als ein Job auf einer internationalen Maschinenbau-Leitmesse mitten im Winter.
Doch irgendwer muss es ja tun. Also mache ich mich auf den Weg, betrete das Messegelände und fädele mich in den Strom der Besucher aus aller Herren Länder. Auf meiner Agenda steht diesmal die Firma Dongelmann und Söhne, ihres Zeichens Weltmarktführer für elektronische Unterdruckspritzgussventilpumpen. Ein erfolgreicher deutscher Mittelständler, wie er im Buche steht, mit einem Jahresumsatz, der nur knapp unter dem Bruttosozialprodukt von Madagaskar liegen dürfte.
Schon von weitem ist das Dongelmann-Logo zu sehen. Wie eine Leuchtreklame auf einem Hochhaus prankt es über dem riesigen, architektonisch aufwändig gestalteten Stand. Nicht schlecht, denke ich. Was das Budget für den Messebauer angeht, hat man sich offenbar nicht lumpen lassen. Von der Decke hängt Dongo, das Firmenmaskottchen, ein prall gefüllter Dickhäuter-Ballon, der mit den Ohren wackeln kann. Auf riesigen Mediatekturwänden bewegen sich Ventilpumpen in Zeitlupe und gießen Unterdruck in den Spritz. Zumindest nehme ich an, dass sie das tun. Von den Produkten habe ich, um ehrlich zu sein, keinen blassen Schimmer. Aber das muss ich auch nicht. Ich teste die Fähigkeit des Personals, Besucher aktiv anzusprechen und zielgerichtet zu beraten. Das erwartet jedenfalls die Dongelmann-Geschäftsführung von mir, die ihren Mitarbeitern natürlich nichts von diesem Praxistest verraten hat.
Ich mime zunächst den technisch interessierten Fachbesucher und beuge mich tief über eine der Produktvitrinen. Für die Messestandbesatzung bin ich jetzt das perfekte Opfer. Gleich müsste neben mir das obligatorische „Kann ich Ihnen helfen?" ertönen. Ruhig zähle ich die Sekunden, bis es soweit ist ... Bei 635 gebe ich auf und werfe erneut einen Blick auf die Standbetreuer, die jedoch alles dafür tun, um mit den Besuchern keinen Blickkontakt aufnehmen zu müssen. Sechs Mitarbeiter stehen einheitlich gekleidet und frisch frisiert auf der Fläche und spielen eine Runde Messemikado. Vermutlich muss der Erste, der sich bewegt, für alle anderen Kaffee holen. Nun gut. Immerhin hat mich die Dame am Infotresen entdeckt. Ihr Blick spricht Bände. Er verrät mir, dass sie sich keinen Zentimeter von ihrem Standplatz fortbewegen darf. Ich soll doch besser die Kollegen fragen. Die sind schließlich genau dafür hier.
Das sehen die offenbar anders. Eine blonde Mittdreißigerin und ein Hipsterbartträger – Kleidung und Namensschilder weisen sie unzweifelhaft als Standmitarbeiter aus – stehen wenige Meter von mir entfernt und sind in ein Gespräch vertieft, das sich bei genauerem Hinsehen als Flirt entpuppt. Die beiden haben nur Augen füreinander und bemerken nicht, wie ein russischer Oligarch mit einem Koffer voller Bargeld hilflos über den Stand irrt und nach einem Ansprechpartner sucht. Endlich sprechen sie den Russen an ... und bitten ihn, ein Foto zu schießen. Dann danken sie artig und widmen sich wieder ihrem Tête-à-tête.
Ich schaue auf die Uhr. 15 Minuten sind vergangen, in denen ich das Gefühl hatte, eine Tarnkappe zu tragen. Ich beschließe, eine kurze Pause einzulegen und nehme im Catering-Bereich Platz, der kulinarische Genüsse weit über dem Messedurchschnitt verspricht. Als eine Servicekraft an meinen Tisch eilt, behaupte ich mit Herrn Meiermann verabredet zu sein. Den Namen hatte ich mir zwar nur ausgedacht, dennoch scheint er mir die Tür zur uneingeschränkten Bewirtung zu öffnen. Ich lasse mir etwas gebeizten Kabeljau mit Birne und Brunnenkresse sowie einen vorzüglichen Spätburgunder bringen.
Nach einer halben Stunde gehe ich gestärkt in den Präsentationsbereich zurück. Die Mikado-Profis trainieren bereits für die neue Saison. Sie erinnern mich an Angler, die stundenlang am Ufer sitzen, ohne ihre Angelruten zum Einsatz zu bringen. Ihre Ansprachestrategie folgt dem Motto: „Wenn die Fische gefangen werden wollen, dann sollen sie doch selbst in den Eimer springen." Eine größere Gruppe von Anzugträgern hat sich unterdessen fachsimpelnd vor einem der Ausstellungsstücke versammelt. In letzter Sekunde gelingt es dem am nähesten stehenden Standmitarbeiter das Handy zu zücken und sich telefonierend an ihnen vorbei zu schleichen. Ich schüttle ratlos den Kopf. Es wäre so leicht gewesen! Ein paar freundliche Worte und schon hätte er gewusst, aus welchem Unternehmen die Gäste kommen, was sie auf der Messe suchen und wer von ihnen am Entscheidungsprozess beteiligt ist. Leichter kommt man nirgends an Neukunden heran.
Kurzentschlossen nehme ich mich der Gruppe an und schließe für Dongelmann kurz darauf ganz unbehelligt mehrere Verträge im sechsstelligen Bereich ab. Im Anschluss gebe ich eine Pressekonferenz, empfange die Bundeskanzlerin, prämiere die Teilnehmer eines Gewinnspiels ... Keine Reaktion bei der Standbesatzung.
Allmählich bin ich mit meinem Latein am Ende. Irritiert ziehe ich mich erneut in den Catering-Bereich zurück und bediene mich am üppigen Kuchenbüffet. Es hilft nichts. Um die Aufmerksamkeit der Standbetreuer auf mich zu ziehen und endlich angesprochen zu werden, muss ich offenbar zum letzten Mittel greifen. Entschlossen trete ich an Dongo heran und bringe ihn ins Schwingen. Keiner reagiert. Dongo wackelt fröhlich mit den Ohren. Er erinnert mich an eines meiner Kinderbücher, in dem ein Elefant davon träumte, fliegen zu können. Das bringt mich auf eine Idee. Ich organisiere eine Leiter, kappe die Befestigung und öffne das Ventil. Dongo legt die Ohren an und pfeift, begleitet von einem lauten Zischen, unter die Hallendecke, wo er kunstvolle Pirouetten dreht. Ein paar chinesische Messegäste filmen die Szene per Smartphone und befördern die Aufnahmen umgehend in die sozialen Netze. Tage später verzeichnet das Auswertungstool der Dongelmann-Website verstärkte Zugriffe aus dem asiatischen Raum, die sich bis heute keiner der Webstatistiker erklären kann.
Nachdem selbst Dongos Abflug beim Personal keine Regung erzeugt, gebe ich auf. Ich hole meine Kamera hervor, um ein paar Fotos für meine Dokumentation zu schießen. Plötzlich kommt Bewegung in die Standbesatzung. Wie von der Tarantel gestochen, laufen sie auf mich zu. „Was tun Sie da?" fährt mich einer der vermeintlichen Lethargiker an. „Bitte stecken Sie die Kamera ein, wir wollen nicht, dass unser Stand fotografiert wird."
„Oh, Entschuldigung – Um ehrlich zu sein, ging es mir weniger um den Stand sondern um das Personal. Ihre Firma hat mich beauftragt ..."
„... Ach so. Das ist natürlich was anderes. – Kommt ihr mal bitte alle zusammen! Hier will jemand ein Gruppenfoto von uns machen."
Dieser Text erschien im Rahmen des Kunden-Newsletters von "Fricke inszeniert."