Alles auf Anfang?
Ich gebe zu, selten habe ich mich auf eine Messe so gefreut, wie auf diese. Die INTERTECO (Name von der Redaktion geändert) war Ende Februar als eine der ersten Veranstaltungen aufgrund der Corona-Krise verschoben worden. Nun wird sie endlich nachgeholt. Die Absage hatte Besucher und Aussteller damals praktisch in letzter Minute ereilt. Während die einen schon auf gepackten Koffern saßen, waren die anderen längst mit Detailabstimmungen beschäftigt, etwa der Suche nach zusätzlichen Verteilersteckdosen oder der Einstellung der Milchschaumstärke an der standeigenen Cappuccino Maschine. Und dann kam plötzlich diese E-Mail der Messegesellschaft: »Sehr geehrter Herr Sucher, wir bedauern, dass wir aufgrund der Verbreitung …«. Sie schloss mit der Hoffnung, alle gesund zum Ausweichtermin wiederzusehen. Man selbst würde die Veranstaltung gewissermaßen nur „einfrieren“ und in wenigen Monaten alles nachholen. Ich ahnte damals noch nicht, wie wörtlich das gemeint war.
Die seitlich geparkten Schneeräumfahrzeuge, die Kisten mit Streusand und die Vorsicht bei Glatteis-Schilder auf dem Vorplatz des Messegeländes hätten mich bei Außentemperaturen um die 25 Grad schon stutzig machen können. Auch das in Legionenstärke angetretene und sich bereits stark langweilende Personal an der Garderobe weckt in mir noch keinen Verdacht. Kurz hinter dem Eingangsbereich hat sich eine riesige Schlange gebildet. »Aha, die Damentoilette«, denke ich reflexartig. Allerdings stehen hier nur Herren. Einer der Männer vom Sicherheitspersonal bemerkt meinen fragenden Blick. Er scheint seit Februar hier Dienst zu schieben. Sein Bart hat eine Länge erreicht, mit der er sich bei einem ZZ-Top-Lookalike-Contest berechtige Hoffnungen auf den Sieg machen könnte. Langsam streckt er seine beiden Hände nach vorn und reibt die Innenflächen aneinander. »Erstmal Hände waschen« empfiehlt er mir schmunzelnd. Ich reihe mich folgsam ein. Aus dem Waschraum ertönt mehrstimmig »Happy Birthday«.
Frisch desinfiziert steuere ich einen Infostand an, um mir einen Hallenplan zu organisieren. »Die deutschen Exemplare sind leider schon alle«, entschuldigt sich die Dame hinter dem Tresen. »Mit so vielen einheimischen Besuchern konnte ja keiner rechnen. Aber Sie können den Hallenplan in Mandarin haben. Oder in Hindi. Auch Koreanisch habe ich noch genug. Die Asiaten sind ja alle zu Hause geblieben.« Ich beschließe, ohne Plan durch die Messe zu navigieren. Immerhin besuche ich sie jedes Jahr und erwarte, dass mir eine Menge bekannt vorkommt.
Schon in Halle 1 ist das der Fall. Die Firma Upsidedown Bau aus Murmelburg hat die Eckfläche an der ersten Kreuzung seit Menschengedenken inne. Die Standnummer könnten die Mitarbeiter im Schlaf aufsagen. An dem zweistöckigen Messestand wurde seit einer Dekade nichts geändert. Nicht umsonst lautet der Unternehmens-Claim: »Wie für die Ewigkeit gebaut«. Dennoch wirken die großformatigen Bilder an der Fassade, die den Standort Deutschland feiern, heute noch stärker aus der Zeit gefallen als in den Jahren zuvor. Eines zeigt, wie ein begeistertes Publikum beim Public-Viewing das Sommermärchen 2006 bejubelt. Die – wenn auch nur fotografisch festgehaltene – Menschenmenge scheint die meisten Messebesucher zu erschrecken. Sie machen einen großen Bogen um den Stand. Ohnehin scheint sich das Gebot, Abstand zu halten, in den meisten Köpfen bereits tief verankert zu haben. Man steuert sorgsam und geduldig aneinander vorbei, wie man es im Supermarkt gelernt hat. Auch die Kontaktaufnahme erinnert eher an fernöstliche Begrüßungsrituale. Das Verneigen kommt wieder in Mode. Dabei fällt allerdings auf, dass dabei viele der Jacketts, Anzüge und Kostüme sichtbar spannen und nicht mehr ganz den aktuellen Konfektionsgrößen ihrer Trägerinnen und Träger entsprechen. Aber dafür gab es in den letzten Monaten schließlich auch schwerwiegende Gründe.
Nach einem kurzen Imbiss (alle Caterer haben Nudelgerichte im Angebot) wechsle ich in die Nachbarhalle. Der futuristisch anmutende Stand von NOTHINGWORKS aus dem hessischen Gehtso fällt mir sofort ins Auge. Er besteht ausschließlich aus Gerüststangen. „Interessantes Konzept, sehr transparent“, sage ich zu der mir bekannten Marketingchefin, die mir entgegentritt. „Finden Sie?“, sagt sie überrascht. „Geplant war das eigentlich nicht. Aber unser Dienstleister hat in der Pause einen Bauauftrag am BER angenommen. Die sind dort wohl noch eine Weile beschäftigt. Leider wusste keiner mehr, wo unsere Fassaden eingelagert sind.« Ich nicke verständnisvoll. »Auch mit den Exponaten sieht es schlecht aus«, sagt meine Gesprächspartnerin. »Sie sind nicht rechtzeitig von der Roadshow aus Übersee zurückgekommen.« Stattdessen werden die Produkte auf Bildschirmen präsentiert. Die Neuentwicklungen wirken auf diese Weise wie Astronauten, die den Erdlingen Grüße von einer Weltallmission senden. Die Marketingchefin winkt ab, als wolle sie nicht weiter darüber reden. »Wenigstens ist genug Glühwein da«, sagt sie. »Der ist noch aus dem Februar. Möchten Sie vielleicht einen?«. Ich lehne dankend ab. Auch für die Kollektion ihrer Give aways (Eiskratzer, Skipasshalter, Brillenputztuch) habe ich derzeit keine Verwendung.
Stattdessen frage ich sie nach den Lücken, die überall zwischen den Ständen zu sehen sind. Sie wurden inzwischen kreativ zu Minigolfplätzen oder Chill-out-Areas umgewidmet. »Das sind Flächen von nicht angereisten Ausstellern«, erklärt sie mir. »Hier stand früher immer ein Anbieter von Messeausfallversicherungen. Ich vermute, der traut sich so schnell nicht wieder her.« Dabei wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu.
Ich verabschiede mich und lasse mich weiter durch die Hallen treiben. Mir fällt auf, wie die Krise meine Wahrnehmung verändert hat. Als neben mir ein Teamleiter seine Crew einschwört („Wir sollten jetzt alle mehr zusammenrücken“) zucke ich zusammen. Über die Werbung einer Unternehmensberatung („Lassen Sie sich von unseren Ideen anstecken“) schüttele ich den Kopf. Auch das Show-Programm eines Ausstellers hinterlässt mich verstört. Auf der Bühne perfomen ein paar Tänzerinnen gerade den „Social Dis Dance“. Später wird hier noch ein Artist auftauchen, der mit Klopapierrollen jongliert und ein Zauberkünstler, der Atemschutzmasken verschwinden lassen kann.
Die letzte Fläche vor dem Ausgang hat sich ein Start-up mit dem Namen FAIRVIRT gesichert. In seinem düsteren Look wäre er auf der Manga Comic Convention vermutlich kaum aufgefallen. Aber hier wirkt er so, als hätte sich der Aussteller in der Veranstaltung geirrt. Auf einem Dutzend LED-Monitoren tauchen abwechselnd Schriftzüge auf, die einem Endzeitpropheten zur Ehre gereicht hätten: „Das Ende der Messe ist nah“, „Die analogen Tage sind gezählt“, „The truth is in the clouds“. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, dass der Anbieter für virtuelle Messen wirbt. »Reichlich deplatziert«, denke ich. »Denen werde ich was husten« (uppps!). Gleichzeitig realisiere ich aber, dass auf dem Stand keine einzige Person zu sehen ist. Doch bevor ich näher treten kann, verschwinden die Animationen plötzlich von den Bildschirmen und zeigen stattdessen endlose Reihen aus Programmierzeilen.
Mit einem Mal schießt ein Techniker aus dem Inneren des Standes heraus. »Verdammt, ein Virus«, flucht er. Woraufhin die ganze Messehalle schlagartig von einem nervigen Alarmsignal erfasst wird. Ich habe das dringende Bedürfnis, eingreifen zu müssen. Also öffne ich die Augen und stelle meinen Wecker aus. Meine Frau blinzelt mich an. »Schlecht geträumt?«. »Ja, Schatz«, antworte ich. »Ein Albtraum!«
Der Text erschien im Kundenmagazin der Agentur Fricke "Raum und Zeit".