Textprobe

Die Stadt der Eisbären

Chuck hauchte an die Scheibe der S-Bahn. An den Fenstern hatten sich Eisblumen gebildet. Blöd, dass gerade heute sein Auto in die Werkstatt musste. Aber so blieb endlich mal etwas Zeit, um seine neue Stadt kennenzulernen. Es war das erste Mal, dass Chuck länger als für ein paar Urlaubswochen von Kanada fort war. Schweden, Finnland, die Schweiz, sogar Russland – alles hätte er sich vorstellen können. Nur ausgerechnet Deutschland? Doch als der Flieger aus Montreal nach endlosen 11 Stunden endlich zur Landung in Berlin ansetzte, war er fasziniert. Die Stadt lag unter einer dichten Schneedecke und glitzerte von oben wie ein Eisparadies.

Die nächste Überraschung erwartete ihn, als er seinen Koffer vom Gepäckband holte und die Ankunftshalle betrat. Er kniff die Augen zusammen, um sicher zu sein. Bei der Gruppe, die dort herumstreunte, handelte es sich zweifellos um Eisbären. Es war nicht das erste Mal, dass Chuck sie in freier Wildbahn sah. Als er noch die Junior Highschool besuchte, war er jedes Jahr zu seiner Tante Victoria an die Hudson Bay nach Churchill gefahren. Der Ort zählte kaum mehr als tausend Einwohner und alljährlich, spätestens ab November, mindestens ebenso viele Eisbären. Sie kamen aus der umliegenden Tundra, um sich die Bäuche mit fettem Robbenfleisch vollzuschlagen. Nirgendwo auf der Welt, so hatte ihm seine Tante erklärt, tummelten sich mehr weiße Riesen als da. Sie sagte auch, dass der „Ursus maritimus“ zu den am stärksten bedrohten Tierarten gehören würde. Chucks Erfahrungen in Berlin waren ganz anderer Art. Die Population schien rasant zu wachsen. Auch heute brauchte er nur aus dem Fenster zu schauen, um solche Exemplare zu entdecken. Sie warteten auf den Bahnsteigen oder stiegen zu ihm in die S-Bahn. Auch wenn ein paar davon ziemlich grimmig aussahen, waren sie friedlich.

In Churchill kam es gelegentlich vor, dass Eisbären auf der Suche nach Essbarem neugierig durch die Küchenfenster schauten. Diese hier hatten sogar gelernt, aus Flaschen zu trinken, und konnten singen. Das gefiel Chuck. Überhaupt war Berlin seiner kanadischen Heimat viel ähnlicher als gedacht: Hier wie dort herrschte ein harter, aber herzlicher Ton, die Sitten waren rau, die Winter lang. Man trank gerne Bier und redete über Eishockey. Fußball war lediglich eine Randsportart. Chuck mochte Berlin. Nur das Stadtwappen passte nicht so recht. Darauf war eindeutig ein Braunbär zu erkennen. Komisch, dass dieser Fehler keinem außer ihm aufgefallen war.

Was war das? Vor Chucks Augen verwandelte sich eine hübsche Studentin, die gerade noch in ihrem Lehrbuch zur Evolutionsbiologie gelesen hatte, plötzlich in eine coole Eisbärin. „Zum Dahinschmelzen!“, dachte Chuck. Die Eisbärin lächelte ihn an und verschwand in der Menge. Überall standen jetzt Eisbären, die ihm fröhlich zuwinkten oder seinen Namen riefen. Manche reckten den Daumen, gaben ihm „High fives“ und wünschten ihm Glück.

Die Bahn fuhr an der Warschauer Straße ein. Bahnsteig und Brücke waren fest in der Hand von Eisbären. Chuck warf seine Sporttasche auf die Schulter und wechselte auf die andere Straßenseite. Von hier konnte man die riesige O2 World schon gut erkennen. Sie funkelte in der Sonne wie ein Palast aus Eiskristallen. Ein Anblick, der keinen kaltließ. Seine Kollegen hatten ihm berichtet, dass die Eisbären noch vor ein paar Jahren zu einer großen Wellblechtonne gepilgert waren. Als der Lebensraum zu klein wurde, schuf man sich eine neue Heimstatt. Auf der alten Eisfläche werden heute Jungbären gezüchtet. Wenig später saß er in der Kabine und schnürte seine Schlittschuhe. Heute musste unbedingt ein Sieg her. Aber was sollte schon schiefgehen, mit dieser Unterstützung. Chuck setzte den Helm auf, ging die paar Meter und ließ sich nach vorn gebückt auf die Eisfläche gleiten. Nach ein paar Schritten hob er seine Nase wie zur Witterung und richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf. Furcht einflößend und mächtig. Ein echter Eisbär. „Mit der Nummer 67: Chuck ...“,rief der Stadionsprecher. „HUTCHINSON“, antworteten vierzehntausend Eisbärenkehlen. Wenn ihn jetzt Tante Victoria sehen könnte.

Dieser Text erschien in "X-MAG", dem Kundenmagazin von Heymann Brandt de Gelmini.

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